ars-et-saliva


david p. eiser

zeitraffer



 
Jarhmond

     

"... und des nachts, in heimlicher stille,
schrieb der könig verlorenen sinnes
mit hellblauer farbe an die mauern der stadt:
es lebe die republik. --

und des nachts in heimlicher ..." -
 
 

"bitte schön," sagte der barmann und stellte das dritte glas vor mich hin. er
schien mir
ganz in seine arbeit vertieft, ganz normal sich zu verhalten wie alle
seine kollegen in
allen städten der welt. aber irgendetwas musste ihm doch an-
zumerken sein, irgend
etwas wie allen menschen hier in jarhmond.

"... und des nachts, in ..." und "bitte schön" waren die einzigen stimmen, die
ich bisher
gehört hatte, obwohl ich mich schon fast drei stunden mitten in dieser
stadt befand, in
die aus grau- blauem himmel lähmende hitze herabfiel.

ich glaube, dieses "und-des-nachts-in-heimlicher-stille.." war die stimme der
stadt. sie
begegnete mir überall, in allen strassen, auf allen plätzen.

jeder lautsprecher gab diesen einen satz wieder, in stetiger, tödlicher monoto-
nie,
endlos, ohne aufzuhören. -

"auch während der nacht nicht?" -

der barmann schüttelte den kopf und liess sich nicht stören beim putzen der
gläser.
alle anderen gewohnten geräusche verblassten unter der an den nerven
zerrenden
eintönigkeit jener wiederholungen. die menschen, die einst zu hun-
derttausenden
jarhmond bevölkert hatten, waren immer weniger geworden.
was sollten sie in einer
stadt, in der nicht sie im vordergrund standen sondern
eine stimme; ans schweigen
waren die wenigsten gewöhnt.

"... und des nachts, in heimlicher stille, schrieb der könig..." - ich riss meinen
blick vom
glase hoch, schon etwas benommen von der hitze, dem alkohol und
jener nagenden
stimme. "wie kam es denn?" fragte ich den barmann, "irgend-
wann muss es doch ein
mal angefangen haben."

"sie haben recht. irgendwann," erwiderte er müde, "hat es begonnen; und es
ist noch
gar nicht allzu lange her."

er starrte nachdenklich auf eine kolonne gläschen, an denen noch die wasser-
tropfen
sassen. die wenigen gäste im raum unterhielten sich schweigend, mit
einer art zeichen
sprache, die jeder hier zu beherrschen schien. man hätte
glauben können, sie ehrten
die stimme durch ihr schweigen, aber es war wohl
eher die erkenntnis, das bewusst
sein, letzten endes doch nicht gegen sie an-
zukommen. -

"plötzlich war die stimme da, von einer sekunde zur anderen," fuhr der barmann
fort.
"wir dachten erst, es sei ein scherz der rundfunkanstalt und lachten darüber.
damals
konnten wir tatsächlich noch lachen. aber als dann eine stunde vergan-
gen war,
wussten wir fast schon, dass es immer so bleiben würde." -

"ja, haben sie denn nichts dagegen unternommen, nichts versucht?" -

er zuckte mit den schultern, verzog ein wenig den mund. "natürlich haben wir
versucht,
was wir konnten. ich habe den apparat ausgeschaltet, aber die stimme
blieb; nicht nur
bei uns; in allen häusern, in der ganzen stadt."

ein mann trat auf die bar zu, reichte dem keeper die hand, machte ein paar
zeichen,
müde, aber anscheinend nicht so hoffnungslos wie der barmann sie
erwiderte. als der
mann die strasse erreicht hatte, sagte der keeper zu mir: "er
verlässt die stadt. vielleicht
hat er draussen mehr glück. - wissen sie, es ist
schwer, draussen ein neues leben anzu
fangen, die menschen dort sind so
anders. anfangs, als wir uns noch nicht so sehr an
die stimme gewöhnt hatten,
da zogen sie zu tausenden hinaus - und blieben auch.

aber es gab auch manchen wie die, die sie jetzt noch hier in jarhmond sehen,
der sich
nicht lösen konnte und versuchte, auszuhalten; bis dann doch eines
tages die sehn
sucht nach draussen siegte und er auszog - zu spät oft. viele,
denen es so ergangen
ist, kommen nach kurzer zeit zurück, völlig verwirrt. sie
können sich nicht zurecht
finden in der welt da draussen; sie können nur noch
hier leben, mit der stimme; es
sind meist ältere leute. jungen menschen werden
sie hier nicht mehr begegnen. kinder
gibt es in jarhmond schon lange nicht mehr.
die stadt stirbt langsam aus."

im spiegel mir gegenüber konnte ich einen teil der strasse überblicken. die auf
der
anderen seite liegenden gebäude schienen leer zu stehen, wenigstens in
den
höheren stockwerken.

"und was geschieht mit den häusern?" fragte ich.

der keeper hob leicht die schultern. "man lässt sie stehen, so wie sie sind.
niemand hat
interesse daran. es gibt zu viele für die paar leute. in ein oder zwei
jahren lebt hier kein
mensch mehr. warum sollen wir uns da noch um häuser
kümmern."

"glauben sie im ernst, dass innerhalb so kurzer zeit die stadt verlassen sein
wird? was
geschieht mit den menschen?"

"die menschen sterben hier schnell. woran das liegt, weiss man nicht. plötzlich
fällt
einer wie vom schlag getroffen um. jeder kann in jedem augenbilck damit
rechnen.
man vermutet, dass es durch nervenlähmung verursacht wird." -

er drehte sich um und wandte sich dem radioapparat zu, spielte ein wenig an
den
knöpfen, drückte ein paar tasten und verstellte den abstimmanzeiger.

"warum ist das gerät eingeschaltet? sie sagten doch vorhin, die stimme sei
auch so
zu hören."

"wissen Sie," antwortete er, "wenn man von kind an daran gewöhnt ist, dass
das
radio nur spielt, wenn man es eingeschaltet hat, dann gewöhnt man sich
schlecht ab,
aufs einschalten zu verzichten. ausserdem, vielleicht spielt da
auch noch eine ganz
kleine hoffnung mit, dass doch plötzlich einmal etwas
anderes zu hören sein könnte.

vielleicht. einmal. -- sie werden es wahrscheinlich komisch finden, aber die
elektroge
schäfte haben am meisten zu tun; denn, sehen sie, wenn das radio
nicht eingeschaltet
ist und dennoch läuft, dann ist irgendetwas nicht in ord-
nung, und wir bringen es weg,
zur reparatur; und reparaturen sind häufig,
weil die geräte doch tag und nacht laufen."

"und man kann wirklich gar nichts dagegen tun?" bohrte ich nach einer pause
weiter,
während der die stimme in ungerührter sturheit einen neuen teil der
gegenwart zer
sägte. der mann hinter der bar hob leicht seine hände, dann
stützte er sie auf das
glänzende chromgitter. - als er wieder zu sprechen be-
gann, schaute er an mir vorbei
auf die strasse hinaus. -

"was haben Sie hier zu tun?" fragte er. "bleiben sie nicht zu lange in Jarh-
mond. es ist
eine tote stadt."

*

jahre später sass ich wieder an jener bar, schweissperlen auf meiner stirn.

in den weissgrauen strassen von Jarhmond flimmerte die heisse, trockene
luft.
erfrischende kühle des chromgitters, auf dem einst die gläser standen
und surrende
ventilatoren gab es nicht mehr. der grosse spiegel im flaschen-
regal war blind und
dunkel geworden; staub und sand bedeckten die hocker
und tischchen; die markisen
hingen reglos, ausgefranst und ausgebleicht
über den eingängen, zwischen den
betonpfeilern starrte dürres unkraut em-
por.

unter einem wolkenlosen aber dunstigen himmel brütete die stadt in der er-
drückenden
sonnenglut irgendeines nachmittages. mein blick fiel auf das
radiogerät. die ein-taste
war noch immer gedrückt, aber die lautsprecher
schwiegen, wie lange schon. -

menschen waren hier etwas fremdes geworden. Jarhmond war eine tote stadt.
 
 
mehr

© dpe
1992