ars-et-saliva
                                       

david p. eiser

zeitraffer


die einsamkeit des vortragenden nach dem vortrag

eine betrachtung


ich spüre die leere um mich herum. es fehlt plötzlich das gespannte, fast geräusch-
lose schweigen der zuhörer. verweht ist die stille auf niedrigem niveau, wo das

raunen und rascheln, husten und knistern zu einem weichen, sanft an- und ab-
schwellenden rosa rauschen verkümmerte. die wände sind kahl, die sitze leer,
mein blick wird nicht gehalten, ziellos tasten meine augen die nächste umgebung ab.

es riecht nach menschlichen ausdünstungen. ein geöffnetes fenster wäre willkommen,
ein kühler luftzug aus der nächtlichen stadt, ein versprechen von erlösung.

während ich hier halb auf dem podium sitze, ertappe ich mich dabei, wie ich meine
umgebung einer betrachtung unterwerfe. im augenblick zieht es mich noch nicht
von hier fort. also nehme ich mir die zeit und schaue mir selbst dabei zu, was ich
aus dem vorgang der betrachtung mache.

betrachten kommt von tragen. in diesem fall trage ich meiner umgebung etwas an,
ich überziehe sie mit einer tracht, ich kleide sie ein in ein besonderes gewand, weil
ich sie für würdig halte, etwas besonderes darzustellen; denn sie war mir ein gehäu-
se, in dem ich mich sicher fühlte, als ich den fremden leuten gegenübertrat, in der
hoffnung, ihre bedürfnisse  befriedigen zu können. ich wollte unangefochten da-
stehen und mein wissen weitergeben. ich wollte erstaunen und bewunderung er-
zeugen. ich erwartete zustimmung und beifall, und das alles in dieser kleinen welt
des saales, in dem mir vielleicht fünfzig leute erwartungsvoll  entgegensahen. hier
wollte ich bestehen und mich nicht aus der ruhe bringen, nicht irritieren lassen
sondern nur meinen auftrag erfüllen und widerspruchslos akzeptiert werden.

und das geschah in diesen vier wänden, die sich trotz ihrer kahl- und nüchternheit
als ein gedanklicher kokon zur verfügung stellten, zuverlässig, stabil und ausdau-
ernd, in dem ich meine gedanken laut werden lassen konnte, ohne diskussionen,
unterbrechungen, störungen.

ich verdanke dieser einfachen, überschaubaren restwelt, nach abzug der besucher,
anderthalb stunden sicheren daseins, von beifall gekrönt; und ein gefühl von stolz.
das führt nun in diesen minuten des alleinseins zu einer würdigung meines um-
feldes, zu einer gedanklichen einkleidung in eine tracht, die seiner bedeutung ge-
recht wird und durchaus angemessen erscheint.

wenn ich mich jetzt aufmache, das licht lösche, den saal verlasse, die tür abschlies-
se und die endlosen flure durchschreite, lasse ich einen zeitkern zurück, umgeben
von einem bauwerk aus glas und stein, zwei stunden leben und wirken am ende
eines tages, und begebe mich in die frühe nacht, die mich umfängt, ohne mir schutz
zu geben; die mich hineinlaufen lässt in die künstlichkeit der lichter, in die geräusch-
kulisse der strassen, vorbei an unbekannten gestalten und gesichtern, ohne bezug,
ohne hinwendung, ziellos.

 

 

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211018