ars-et-saliva
david p. eiser
zeitraffer
der dinggang
in der halle herrschte das übliche treiben. kommen und gehen, schubsen,
rufen, ansagen... ein köter kläffte. ein telefon quarrte. ein schwall tabak-
qualm streifte mein gesicht. zielstrebig zog eine alte, ihren koffer hinter
sich her rollend, in die unterführung hinein.
"achtung, reisende zum intercity-schnellzug nach hamburg bitte zum gleis
sechs..." am eingang der internationalen buchhandlung drängten sich ein
paar dunkelhaarige fernostler in offenen, hellen sommermänteln um den
presseturm.
schnelle blicke - im vorübergehen - zur bahnhofsuhr, winken zum abschied,
winken zum verdruss, taschen von links nach rechts umhängen, gepäck-
karren schieben, "ina, bleib bitte hier bei mir!"
ein duft nach schwarzem kaffee und zwei schritt weiter: alter bierdunst, ein
nässestreifen auf dem boden. penner in der ecke zum autoverleih, hilflose
markstücksucher vor den gepäckschliessfächern und ein paar gröler, die
das laute lieben, die rolltreppe verkehrt herum heruntertorkeln und sich
eitel produzieren vor diesem publikum mit den unruhigen augen.*
ich hatte nicht mehr allzuviel zeit, wollte aber noch in ruhe zur toilette gehen.
also verkniff ich mir einladendes bummeln vor den kiosken und begab mich
schleunigst in richtung wc, bald nur noch der nase folgend, die eindeutige
richtungsinformationen lieferte. -
es war wohl gerade hauptabfahrtszeit; denn die räumlichkeiten erschienen
weitgehend verlassen und leer. meine absätze knallten herausfordernd auf
die steinfliesen, und der schall meiner tritte wurde unangenehm scharf von
den blauen kacheln zurückgeworfen. irgendwo rauschte etwas. vor den
spiegeln stand ein mann, sakko unterm arm, und band sich die krawatte,
kämmte sich durch die haare und kokettierte mit seinem konterfei.die kabinen waren frei, soweit ich sehen konnte, und zunächst etwas un-
schlüssig entschied ich mich schliesslich für eine, die etwa in der mitte des
hinteren drittels lag. ich hatte glück. sie war sauber und ordentlich, papier
und bürste an ort und stelle, keine schmierereien an den wänden, und so-
gar der kleiderhaken sass fest und stabil in der wand.ich hatte diese kabine letztlich ausgesucht in der hoffnung, dass andere
benutzer nicht so weit laufen würden, aber es dauerte nicht lange, da hörte
ich nebenan jemanden eintreten. er schnaufte und prustete, drehte und
wand sich in dem engen raum. ich hörte, wie er aus den kleidern kam,
an die trennwand buffte - er musste wohl recht umfangreich sein - seine
kleidung aufhing und sich erleichtert stöhnend niederliess, so gewichtig,
dass die brillen scharniere knarrten.es waren nur wenige minuten vergangen, als sich mein nachbar, in tiefem
bass, offensichtlich sehr angetan vom günstigen geschäftsverlauf, befrie-
digt äusserte. auch ich konnte nicht klagen, und so kamen wir schliesslich
ins gespräch. ein wort gab das andere. wir stellten fest, dass wir die glei-
chen interessen und die gleichen absichten hatten und wünschten uns
gegenseitig erfolg bei der bewältigung unserer aufgaben.als uns der gesprächsstoff auszugehen drohte, raschelte mein nachbar
plötzlich mit papier, und auch ich hatte auf einmal das bedürfnis, die zeit
nicht ungenutzt verstreichen zu lassen und bloss stur abzusitzen. aber
leider hatte ich nichts zu lesen dabei.dies beiläufig bedauernd äusserte ich mich höflich zurückhaltend meinem
neuen unbekannten bekannten gegenüber, der dann auch sogleich sich
erbot, mir einen teil seiner lektüre abzugeben. er überliess mir sogar die
auswahl, und so kam ich zu kommentar und nachrichtenteil der grossen
überregionalen tageszeitung, die ich mir in der eile des herkommens nicht
mehr geglaubt hatte leisten zu können.mein nachbar faltete die blätter sorgsam und schob sie mir ächzend un-
ter der trennwand durch, nachdem wir uns darauf geeinigt hatten, dass
ein rüberwerfen doch vielleicht zu auffällig und auch zu riskant gewesen
wäre. ich beugte mich meinerseits etwas vor und nahm die zeitung in
empfang, bedankte mich artig und begann zu lesen, und wie im fluge
verging die zeit.als ich endlich mal wieder auf die uhr schaute, war es fast schon zu spät.
hastig beendete ich diese sitzung, die so harmonisch angefangen hatte
und so erfolgreich verlaufen war; eine sitzung, in die ich ohne grosse
erwartung gegangen war, die mir jedoch unverhoffte nähe zu einem an-
deren menschen gegeben und mir gezeigt hatte, dass gemeinsamkeit
geschäftlichen dingen recht förderlich ist.mein nachbar war längst verschwunden. ich hatte mich in meinen zei-
tungsanteil so vertieft, dass ich kaum wahrnahm, wie er seine verhält-
nisse ordnete und das kabinett verliess, nicht ohne mir noch weiterhin
gedeihliches fortkommen für meine angelegenheiten zu wünschen.ich fragte ihn noch schnell, aber ohne wirklichen ernst, ob er seine
zeitung wiederhaben wolle, streckte sie auch schon halbherzig unter
der tür nach vorne durch. er aber schnaufte nur freundlich-gönnerhaft
und liess mich zurück in meiner kemenate, wo ich mich gleich wieder
in die journalistisch aufgearbeiteten politischen wirren stürzte, alles
weitere und nähere um mich herum vergessend.etwas überstürzt hastete ich nun zum waschbecken, nässte pro forma
meine finger, zerdrückte ein graues papiertuch, um etwas von der
überschüssigen feuchtigkeit loszuwerden und rannte los zum bahnsteig.
und wirklich gelang es mir, sozusagen in letzter sekunde, die tür des
letzten wagens zu passieren, als diese sich auch schon automatisch
schloss und der zug seine fahrt aufnahm.da ich eigentlich ein vorsichtiger, ich dachte auch immer vorausschau-
ender, mensch bin, hatte ich mir eine platzkarte besorgt und musste
nun waggon für waggon durchwandern, um an mein ziel zu gelangen.
unterwegs kam mir schon der schaffner entgegen und verlangte nach
meiner fahrkarte.*
mein abteil war nicht besetzt, oder doch, es war schon jemand vor mir
dagewesen, aber im augenblick nicht anwesend. ich entschied mich
daher für den mittelplatz, um meine langen beine ungestört ausstrecken
zu können, griff mir die geschenkte zeitung und begann darin zu blättern. -als der zug schon ordentlich fahrt aufgenommen hatte, öffnete ein älte-
rer herr die abteiltür, zwängte sich schnaubend hindurch, grüsste freund-
lich und begab sich zum fensterplatz: ich hatte also richtig kalkuliert
und machte es mir in der mitte gemütlich, indem ich die schuhe auszog
und die beine auf dem gegenüber liegenden sitz ausstreckte."ohne lektüre gehe ich auch nie auf reisen", lächelte mein mitreisender,
angelte sich aus der manteltasche ebenfalls eine zeitung und begann
zu lesen. ich nickte ihm nur höflich zu und vertiefte mich in die meine. -nach einer geraumen weile hatte ich alles wissenswerte in mich aufge-
nommen, doch mich dürstete nach mehr, und als ich bemerkte, dass
auch mein gegenüber weitgehend ausgelesen zu haben schien, signa-
lisierte ich ihm mit einem aufmunternden lächeln und einer kurzen,
zuckenden armbewegung meine bereitschaft zum tausch, womit er sich
prompt einverstanden erklärte und mir ein herzliches "vielen dank" ent-
gegenbrachte.als der zug in münchen hielt, waren wir beide auf unsere kosten gekom-
men. ich hatte doch noch das feuilleton und die reklameseiten gelesen
und er die politischen und die nachrichten. -*
ich kenne jemanden, der immer wieder behauptet, es gebe keinen zufall.
© dpe
2000