ars-et-saliva

david p. eiser

zeitraffer


 bis an das ende der welt
 
 

nachdenklich, etwas zögernd, blickte er die frau an. dann sagte er, langsam: "ich
werde gehen und dir den stern holen."

sie schaute in seine augen, offen, voller sehnsucht. bedächtig begann sie zu ant-
worten: "ich werde jede nacht hier warten und ausschau halten. und in
der nacht,
da er verschwunden sein wird, werde ich wissen, dass du ihn
gefunden hast und
ihn mir bringen wirst. - leb' wohl."

ihre augen verloschen, und nach wenigen schritten verbargen sie die philodendron
und eiben; über die terrasse huschte ein hellerer schatten,
 dann war nichts mehr.

der mann machte sich auf, einen weg zu dem stern zu suchen. auf der höhe der
nacht gelangte er an einen riesigen see, dessen wasser so glatt waren
wie ein
spiegel, in dem sich alle gestirne des himmels wiederfanden, auch
jener stern. -

"vielleicht ist dies der weg," dachte der mann, "er muss es sein, ich weiss keinen
anderen." -

am ufer fand er ein breites floss, auf dem er weit in den see hinausstiess; aber
nachdem die aufgeworfenen wellen endlich zur ruhe gekommen waren
und er
den stern wiedergefunden hatte, erkannte er, dass er ihm nicht
 wesentlich näher-
gekommen war.

als er den jenseitigen strand erreichte, stieg er ans ufer und erklomm in den letz-
ten augenblicken der nacht eine langgezogene hügelkette, die
das land vom see
trennte. jenseits der hügel schickte sich der himmel an,
dem tag seinen weg zu
bereiten und verfärbte sich stahlblau. als sich die
sonne wie eine glühende glas-
kugel auf den horizont rollte, wandte der
mann sich zur seite und legte sich auf
den boden, um auszuruhen; schon
strahlte der himmel so hell, dass er keinen
einzigen stern mehr erkennen
konnte. ermüdet schloss er seine augen und be-
gann zu schlafen.

der abendwind weckte ihn. soeben konnte er noch wahrnehmen, wo die sonne
versunken war. bald darauf entdeckte er auch den stern wieder
und machte sich
von neuem auf seinen weg, ins unendliche land
hinein, stetig den blick auf sei-
nen stern gerichtet. unaufhaltsam, unbeirrbar
schritt er weiter bis zum beginnen-
den morgen. da verschwanden die sterne
wieder, und er legte sich hin und
schlief bis zum sonnenuntergang. -

so wanderte er viele nächte hindurch, bis er plötzlich, eines morgens bei schon
erblassendem himmel glaubte, nun endlich am ziel zu sein. greifbar
nahe
schwebte der stern über dem hügelkamm; nur noch diese anhöhe,
und er wür-
de es geschafft haben. seine schritte beschleunigten sich.
 sein herz begann
schneller und intensiver zu pochen.
der stern, dort oben, endlich ...

erschöpft sank der mann auf seine kniee, vergrub für wenige augenblicke sein
gesicht in den händen und seufzte laut dem beginnenden tag
entgegen. der
stern - sein stern - er stand dort drüben, jenseits des
unendlich breiten stromes,
leuchtete in voller klarheit, wunderbar kühl und
rein, gar nicht so sehr sinnlich
verlockend, aber mit unwiderstehlichem
schein, funkelte im orangen glanz des
aufziehenden morgens, hell und
wunderbar gegen den blauen himmel. -

langsam schritt der mann hügelabwärts, dem ufer des flusses zu, dessen un-
durchdringliche wasser sich träge fortwälzten; bewegliche, unsicher
tragende,
angst einflössende barriere zwischen diesseits und ...

der mann liess sich nieder am ufer und schaute zu dem stern hinüber. es war
nun ein ganz anderes gefühl in ihm. jetzt war er fest überzeugt,
 tatsächlich
am ziel zu sein. vorhin, als er hügelauf laufend den stern
schon erreicht glaubte,
hatte er im tiefsten inneren doch noch zweifel
gehegt, er war so unruhig gewe-
sen. aber nun horchte er in sich hinein,
und es war ganz still in ihm. ja; jetzt
wäre er am ziel, das war ganz gewiss.

wenn nur nicht der fluss ...

als er aufschaute aus seinen grübeleien, erblickte er einen alten mann vor sich.
der stand in einem flachen, breiten kahn, hatte seine rechte hand
auf eine lange
stange gestützt, die wohl im grunde des flusses stak.

der alte wartete, bis der junge herangekommen war, geduldig, ohne sich zu rüh-
ren. er betrachtete ihn ohne geringste anzeichen irgendwelchen
empfindens,
aber mit aufmerksamen augen.

"ich weiss," sprach er, als der mann seine lippen öffnen wollte, um seine anwe-
senheit zu erklären. "du suchst den stern dort drüben."

"ja, ich muss ihn einem mädchen bringen. schaff mich hinüber!"

der alte liess sich zeit mit der antwort. er sah den jungen unverwandt an und
dieser ihn. -  

"du solltest wissen," begann er, "dass dieser fluss eine grenze ist,  verstehst
du? die grenze ..."

"ja. ich weiss. aber ich muss den stern haben, bestimmt. ich muss ihn haben!"

der alte schien nicht mehr ganz so unerbittlich, als er erwiderte: "diese grenze
ist eine endgültige. ich bringe jeden, der hinüber will, hinüber, aber
ans dies-
seitige ufer komme ich immer mit leerem kahn zurück. verstehst
du? mit leerem
kahn zurück. - eine grenze ist notwendig. dass sie ein fluss
ist, über den keine
brücke führt, ist dein glück, denn sonst wärst du schon
verloren. - menschen
mit wünschen wie den deinen lassen sich nicht
aufhalten durch schilder mit
der aufschrift: grenze. aber es soll niemand
aus versehen nach drüben gelan-
gen, und deshalb bin ich hier. um dir das
zu sagen."

der stern jenseits des flusses verblasste immer mehr, wurde eins mit  dem
dunst des himmels, verschwand allmählich in aufsteigendem nebel. -

der mann fühlte, wie sich sein herz zusammenkrampfte, und plötzlich spürte
er die gewissheit, dass er den stern niemals erreichen würde,
ohne endgültig
den fluss zu überqueren.

mit gesenktem kopf hatte er auf seine füsse geschaut, in unentschlossener
erregung hatten seine lippen unhörbare worte geformt. als er den blick auf-
hob, sah er den kahn schon weit draussen im strom; der alte stand im
heck
und stiess die stange gemächlich, tief ins wasser hinein. um ihn herum
be-
wegten sich undeutliche schemen, der ganze kahn war mit ihnen angefüllt.

bald aber versank das alles im aufwallenden nebel. -

der mann hatte sich umgewandt, hatte begonnen, die hügelkette zu erklim-
men.
oben warf er noch einen blick zurück, um noch einmal vielleicht den
stern zu
sehen. der jedoch war verschwunden; denn die sonne stand hoch
am himmel. -

viele tage und nächte lang wanderte er wieder zurück, ohne den weg zu ver-
fehlen.
manchmal suchte er nachts nach dem stern. er fand ihn auch, aber
niemals
vorher war er ihm so klein vorgekommen, so unscheinbar wie jetzt.

und eines nachts betrat er den garten, in dem die frau auf ihn wartete. -  sie
sass auf einem steinernen tisch, umgeben von blühendem philodendron
und
jasmin. als er zu ihr trat, zurückhaltend, fast scheu, hob sie ihren blick
seinen
augen entgegen. kein lächeln lag auf ihrem gesicht, eher ein leiser
vorwurf; aber
im grunde musste man wohl raten, was in ihr vorging.

"seit jener nacht habe ich ohne unterlass den weg gesucht. sobald die sonne
versunken war, bin ich gewandert ohne aufzuhören, bis ich an eine hügel-
kette
kam. darüber stand der stern so gross und schön und nah, dass ich
laufen musste,
um endlich, endlich ihn zu erreichen. - jedoch er stand jen-
seits des stromes,
der unterhalb der hügel fliesst, und der strom bildet die
grenze. -
du hast jede nacht hier gesessen und nach dem stern geschaut,
darauf gewartet,
dass ich ihn dir bringe? ... den stern, ich konnte ihn nicht
erreichen. -
über den
strom - geht eine fähre. - ich - habe sie nicht genommen. - ich
konnte nicht. -
 ich bin ohne den stern zurückgekommen. - ich habe ihn
nicht gefunden."-

die frau blickte ihn an, mit grossen augen, voller trauer.

"ja. - ich wusste es," sagte sie und ergriff seine hände.

er legte die arme um sie und weinte.
 
 
 

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© dpe

1982