ars-et-saliva


david p. eiser

zeitraffer



 

seine freundinnen
 
 

vorsichtig stellte Richard den cognacschwenker auf dem glastisch neben
sich ab. ohne hinzuschauen. sein blick blieb
unverwandt auf die stadt ge-
richtet, die im abenddunst vor ihm ausgebreitet lag, unter dem dunklen
himmel, von hier bis
zum horizont eine vielfarbige perlenkette von lichtern
und blitzen, und aus der ferne drang das monotone rauschen
durch die
geöffnete terrassentür, diese eigenartige, undefinierbare mischung, her-
vorgequollen aus millionen von
motoren und menschlichen kehlen, durch-
setzt mit dem lärm quietschender bremsen, kreischender schienenfahr-
zeuge, knatternder hubschrauber und dann und wann einer düsenma-
schine, die wie ein verirrter, nicht richtig funktionierender feuerwerkskör-
per langsam spiralförmig aufstieg und über der see verschwand.

 

aus den lautsprechern plätscherte belangloses gedudel und belegte den
raum mit einem schwebend-distanzierten
klangteppich. - Richard strei-
chelte Elenas hand, spielte gedankenverloren mit ihrem ring, drehte ihn
hin und her, stand
schliesslich auf und sagte:" ich geh noch mal zu
Joey´s, liebes...", stand auf und liess ihre hand los und schaute auf
die
stadt und drehte sich nicht um, verharrte vor dem fenster und ging
schliesslich in den flur, warf einen kurzen blick
auf sich selbst im spie-
gel und verliess die wohnung. -

 

er fuhr nie im eigenen wagen zu Joey´s, nahm immer ein taxi. er hasste
das ewige suchen nach einem parkplatz.
manchmal machte er grosse
umwege, liess sich lange kreuz und quer durch die nächtliche stadt
fahren, wechselte
immer wieder das fahrzeug als wäre er auf der flucht.
er liebte diese stadt bei nacht, dieses nicht enden wollende
leben, die
erträgliche wärme der stunden um mitternacht, da man bei geöffneten
fenstern fahren konnte, mit ausgeschalteter klimaanlage, durch den ab-
gasdunst, durch den lärm, durch die kühle frische am fluss, durch den
geruch
des meeres am hafen. er liess sich überraschen von den bedürf-
nissen der taxifahrer, den grossen schweigern und
den grossen rednern,
den studentischen habenichtsen und den farbigen möchtegerns, von
denen, die schon alles
kannten und denen, die vor gier kaum mit den
augenlidern zuckten, aus angst, sie könnten etwas verpassen...

 

an der bar sassen ein paar pärchen und ein paar singles. wie immer.
völlig unbekannt. Richard liebte die anonymität.
Joey´s garantierte nahezu
lückenloses incognito. dies war eine durchgangsstation par excellence.
hierher kam man
normalerweise kein zweites mal. jedenfalls nicht aus
anhänglichkeit. aber ein gutes hatte Joey´s: niemand fragte,
niemand
interessierte sich. wer nicht sprechen wollte, der sprach nicht, und nie-
mand würde sich deswegen beleidigt
fühlen.
 

die deckenlautsprecher verströmten synthetisches, unverbindliches,
ohne höhen und tiefen. durch die zur seite
geschobenen türen drang
der lärm der avenida herein, und beides wechselte in seiner intensität.  
niemand sollte
sich beobachtet fühlen, erdrückendes schweigen gab
es hier nicht, 24 stunden von 24 stunden.

 

Richard nippte von seinem mix. er schaute in den breiten spiegel und
hatte das ganze strassenpanorama vor sich.
ohne sich umzudrehen
konnte er erkennen, was und wer sich draussen vorbeibewegte, wer
am eingang zögerte,
wer schliesslich hereinkam und wer hinaustrat
auf die strasse. - "Elena", dachte er, als er eine frau vorbeischlendern

sah, eine frau mit langen schwarzen haaren, minirock und wiegenden
hüften, herausfordernden schultern und tief
hängenden brüsten. -

"sie sieht aus wie Elena"; und in demselben augenblick verspürte er
einen kick, der ihm signalisierte, dass er ja nicht
nur träumte sondern
wirklich existierte, mit körper und seele und nur nach hause zu gehen
brauchte, um seine
begierde zu stillen. -

 

*

in der mittagspause war er in die MELLA gefahren, war ins modema-
gazin gegangen, hatte sich nicht sattsehen können
an den schaufen-
sterpuppen mit ihren fantastischen kleidern und kostümen. schliess-
lich hatte er sich entschlossen,
eine kombination für Elena zu erstehen,
die zusammen mit den üblichen accessoires wie seidenschal, hand-
schuhe
und strumpfhose fast elfhundert dollar kostete. jetzt brauchte
er nur noch eine verkäuferin zu finden, die Elenas figur
hatte, und sie
zu überreden, ihm zu helfen.

 

"ich möchte meine freundin überraschen. sie hat morgen geburtstag."
die verkäuferin lächelte verständnisvoll.
"sie hat genau ihre figur, und
ich finde, sie sollte diese kombination tragen. - könnten sie vielleicht
ausnahmsweise
die anprobe machen? es ist nur, weil ich sie damit
überraschen möchte..."

"oh, das geht schon in ordnung", lächelte die verkäuferin. sie fühlte
sich geschmeichelt. "selbstverständlich dürfen
wir ihnen modestücke
vorführen", und sie verschwand in der garderobe, um sich umzuziehen.

Richard lehnte sich entspannt im schwingsessel zurück. weiches licht,
gedämpfte geräusche, teppichboden hoher
einsinktiefe, schwere,
dunkle vorhänge, geschmackvolle textilien, abgehängte decken, de-
zente wandfarben, wohlduftende kundinnen, zurückhaltende verkäu-
ferinnen: das war die atmosphäre, die er liebte und genoss.

das mädchen liess sich zeit, und Richard schloss kurz die augen, um
den geruch dieser boutique besser in sich
aufnehmen zu können,
um die geräusche intensiver zu hören, um den plüsch des sessels
ungestörter zu fühlen und
sich hinzugeben der erwartung. ein lächeln
lag auf seinem gesicht.

"sie träumen ja", sagte sie und berührte ihn leicht am rechten arm,
sie strahlte ihn an als wollte sie ihn auffordern, ihr
den hof zu ma-
chen. aber Richard sah nur das kleid und in diesem kleid nur Elena
und war verzückt vor freude, wieder
mal das richtige gefunden zu
haben. er liess sich alles in einen grossen karton einpacken, mit
buntem papier verkleiden
und einer breiten schleife verzieren,
kaufte an der ecke 12. noch eine gelbe rose, band sie in den knoten
hinein und trug
das sperrige paket befriedigt ins büro, um es abends
mit nach hause zu nehmen. -

 

*
 

beide ellenbogen auf die bar gestützt legte er sein gesicht in die
hände und sog die luft ein. handschweiss und der
geruch der taxis
waren ganz nahe, und zigarettenqualm, alkoholdunst und das unbe-
stimmbare aroma der windstillen
nächtlichen stadt brandeten immer
wieder in wechselvollem spiel an sein bewusstsein. und als die un-
ruhe in ihm zu
stark wurde, schob er dem keeper das geld hinüber,
winkte ab, als dieser zurückgeben wollte, wandte sich langsam
dem
ausgang zu und stakste nach draussen, blieb am rand des geh-
steigs stehen, zündete sich eine zigarette an und
schaute in die
vorbeifahrenden lichter, nur so, ohne gedanken, ohne idee. er nahm
das klopfen seines herzens wahr,
trotz des lärms um ihn herum,
er spürte die vibrationen der strasse, wenn laster und busse vor-
überrasten, spürte den
fahrtwind in seinem gesicht und liess sich
vom echo in der häuserschlucht narren, das die grellen heuler
eines
ambulanzwagens in seine ohren drückte. -

das taxi hielt vor seinem block. der fahrer hatte versucht, eins seiner
lapidaren themen bei Richard loszuwerden. der
aber hatte keine lust
mehr gehabt, sich über autos zu unterhalten, auch nicht über motor-
räder, und football auch nicht. schliesslich hatte er es aufgegeben,
hatte das radio etwas lauter gestellt, seinen kaugummi etwas inten-
siver bearbeitet
und den rhythmus mitgepfiffen, aber nicht so richtig
sondern eher beiläufig mitgezischt. es war auszuhalten. -

Richard dachte an Elena. sie würde da oben sitzen, so wie er sie verlas-
sen hatte, reglos in die nacht schauen, dasitzen
in dem neuen kostüm,
den schal lässig über die linke schulter geworfen, die schwarzen locken
in der stirn...

und so war es, als Richard die wohnung betrat, genauso.

"da bin ich wieder"; er flüsterte es fast, beugte sich ein wenig zu ihr
nieder, schaute in ihr gesicht, auf ihre hände, den
schlanken körper,
griff schliesslich zu und hob sie hoch und trug sie ins schlafzimmer.
unschlüssig stellte er sie neben
den schrank, lehnte sie an den spiegel,
wollte ihr die kleidung abstreifen, hielt jedoch inne, trat einen halben
schritt
zurück und betrachtete sie noch einmal, zögernd, packte sie
aber erneut und legte sie auf die eine seite des bettes.

als er die schranktür öffnete, lächelte ihm Paulette aus dem dämmer
entgegen. das schwache licht liess ihre eh schon
weichen gesichts-
züge verschwimmen und verzauberte sie zu dem faszinierenden antlitz,
das er so liebte, wenn die
traurigkeit über ihn herfiel und die unbe-
stimmte sehnsucht nach etwas, was er selbst nicht definieren ge-
schweige denn
beschreiben konnte, von dem er nur wusste oder
ahnte, dass es tief aus seinem inneren kam und etwas mit leben
und
tod gleichzeitig zu tun hatte.

er warf sich aufs bett und schloss die augen. dunkelheit umfing ihn.
die geräusche der stadt drangen von ferne an
seine ohren. er roch
das parfüm, das er am abend auf Elenas kleidung getupft hatte; er
griff nach hrer hand und hielt
sie fest, diese kleine, schmale, kühle
hand, die reglos neben ihm lag.

als die tränen in seine augen traten, liess er sie los und drehte sich
auf die seite, rollte sich ein, vergrub sein gesicht
im kissen und er-
stickte darin sein schluchzen.

 

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1996