zeitraffer
scheidungstermin vor dem amtsgericht in H.
in sachen Anneliese Schrepke/Herr-Ludwig
(frau Sch., 78 jahre alt. nach 43 jahren als reinemachefrau in der molkerei nun
seit 14 jahren in rente. verwitwet seit 19 jahren. drei kinder, vier enkelkinder.
seit drei jahren alleinstehend, nachdem sich ihr lebensabschnittspartner, mit
dem sie fast acht jahre liiert war, plötzlich einer jüngeren frau zugewandt hatte.)
...
richter: frau Schrepke, ihnen wird vorgeworfen, am 2. februar dieses jahres eine
kleinanzeige in der Kreiszeitung aufgegeben zu haben, in der sie erklärten, sich
von ihrem hund trennen zu müssen. es handle sich um einen guterzogenen,
gesunden, kastrierten labradormischlingsrüden, der keinerlei schwierigkeiten
mache. – gründe für ihre trennungsabsicht haben sie nicht angegeben. eine
scheidungsklage ist bei gericht nicht eingegangen.
was hat sie zu dieser anzeige bewogen?
Sch.: (schnieft), ich wusste das doch nich, mit der scheidung... und dass ich
das begründen muss. ich war so verzweifelt in letzte zeit... (schluchzt laut,
wischt sich die tränen aus dem gesicht) ...ich hatte das gefühl, dass ich das
alles nich mehr schaffe... und ich wollte eigentlich auch nich mehr leben...
und der hund sollte es doch gut haben, wenn ich nich mehr da war... uhhhhh.
richter: (ungehalten) nun, frau Schrepke, jetzt reissen sie sich mal ein bisschen
zusammen. wir sind hier doch nicht auf dem friedhof. wir suchen hier im auftrag
von recht und ordnung nach der wahrheit, und da müssen sie ihre gefühle mal
eben ein wenig zügeln. – also, sie haben durch ihre anzeige in der zeitung eine
anzeige vor gericht ausgelöst. der hier anwesende vorsitzende des örtlichen
tierschutzbundes, herr Walter Wuffmann, hat als vertreter der anklage festge-
stellt, dass sie ihren hund, der angeblich auf den namen Herr-Ludwig hört,
seit fast zehn jahren halten, ohne dass es aus diesem zeitraum auch nur die
geringsten klagen oder beschwerden von ihrer seite oder aus der sicht anderer
personen gegeben habe. er hat sie und einige ihrer nachbarn ende Januar zu
hause aufgesucht, um sich ein bild von ihnen, ihrer wohnung und dem tier zu
machen und ist zu dem schluss gekommen, dass ihre anzeige jeglicher notwen-
digkeit entbehre.
was haben sie dazu zu sagen?
Sch.: (völlig aufgelöst, heult rotz und schnütte), ich verstehe das ganze nich.
was hab ich denn verbrochen, dass ich jetzt hier vor gericht muss?
richter: mit der aufgabe ihrer anzeige in der zeitung haben sie unter umgehung
einschlägiger gesetzlicher bestimmungen das halterverhältnis zu ihrem hund
Herrn-Ludwig gekündigt. dies ist ein verstoss gegen das hundescheidungsrecht.
und wir sind hier, um zu klären, welche gründe sie dazu bewogen haben, gegen
gültiges recht zu verstossen. also bitte, nehmen sie stellung zu dem vorwurf der
anklage.
Sch.: (kann kaum sprechen, schluchzt herzergreifend, schneuzt sich tief ins ta-
schentuch hinein, wischt sich die augen aus, schaut schliesslich den richter an
und stottert mehr als dass sie spricht) ich... mir ging das schon eine ganze weile
nich so gut. da wollte ich das tier nich mehr haben... weil es doch so viel arbeit
macht, jeden tag mindestens einmal raus und das bei jedem wetter...
und dann immer die sache mit den kotbeuteln... ich kann mich doch nich mehr
so gut bücken, wegen meine beine... und meine knochen sind doch auch nich
mehr die jüngsten... das müssen sie doch verstehen.
richter: also, nach dem, was herr Wuffmann festgestellt hat und wie ich sie
jetzt hier so erlebe, kann ich nicht nachvollziehen, was sie dazu bewogen hat,
den hund plötzlich aufzugeben. da muss doch irgendwas vorgefallen sein.
schliesslich haben sie doch jahrelang mit dem tier zusammengelebt, ohne dass
irgendjemandem etwas aufgefallen wäre, das ihre unvermittelte abneigung ge-
gen den hund erklären könnte...
frau Schrepke, wollen sie uns hier nicht endlich die wahrheit sagen...?
Sch.: (bricht über dem tisch, an dem sie steht, zusammen. ein langgezogener
heuler durchdringt den sitzungssaal. der pressefuzzi in der dritten zuschauer-
reihe springt auf, reisst seine kamera hoch und blitzt drauflos, bis der richter
saalverweis androht. der justizhauptwachtmeister begibt sich gemächlichen
schrittes zur angeklagten und spricht – im geraune und gemurmel des saales
nicht hörbar – offensichtlich beruhigend auf frau Sch. ein.) buhuuuuh...
richter: (bimmelt ungehalten mit der glocke) können wir jetzt bitte zur sache
kommen und die sitzung fortsetzen? – und bitte ruhe da bei den zuhörern.
Sch.: (rafft sich auf, schluckt noch zweimal, verdreht die augen, wringt ihr ta-
schentuch in den händen und stammelt): also... (schaut verschämt und verun-
sichert nach unten, der richter beugt sich vor, um sie besser verstehen zu kön-
nen) das war neulich, als ich vom markt zurückkam. ich hatte in der einen
hand die tasche mit den einkäufen und in der andren die leine mit den hund...
(schluchzt noch mal) und wie ich nach hause komme, da stehen die beiden
nachbarsfrauen im treppenhaus und quatschen. und ich grüsse nur kurz,
weil ich doch die schwere tasche und den hund habe und nach oben will.
und das haben sie mir wohl übelgenommen. aber wie ich die ersten stufen
hochgehe, da höre ich noch, wie die eine sagt: mein Gott, die sieht ja aus
wie ihren rüden...
(bricht in lautes schluchzen aus).
richter: nun ja, frau Schrepke, das war wohl kein kompliment. aber was wol-
len sie uns mit dieser schilderung sagen?
Sch.: (die tränen laufen ihr übers gesicht, sie ist völlig derangiert)... als ich in
meine wohnung in den spiegel kuckte, hab ich einen riesenschrecken gekriegt.
im ersten moment dachte ich, dass da wirklich eine grosse ähnlichkeit mit den
hund zu erkennen war, und dann musste ich mich erstmal setzen. das war
mir noch nie aufgefallen.
und seitdem is mir das nicht mehr ausm kopf gegangen... (schluchzt immer
wieder, aber der richter bleibt geduldig)... und wie mir das so schlecht ging die
tage danach, bin ich beim arzt gegangen, und wie ich da im wartezimmer sitze...
(bricht ab und heult kurz auf, schneuzt sich die rot angelaufene nase, stammelt
dann weiter)... lese ich in einer von den illustrierten was über alte menschen
und ihre hunde, und da stand genau das, was die nachbarin gesagt hat,...
nämlich dass man sich rechtzeitig von seinen tier scheiden lassen soll, bevor
es soweit gekommen is, dass die anderen sagen, man sieht ja aus wie sein
eigenen hund... (bricht erneut über dem kleinen tisch vor ihr zusammen und
heult hemmungslos in taschentuch, ärmel und papiere hinein)...
richter: nun ists aber genug, frau Schrepke. –
pflichtverteidiger (rechtsanwalt Hubert Kopplast): hohes gericht, in anbetracht
des desolaten seelischen zustands meiner mandantin beantrage ich eine pause
und die hinzuziehung eines sachverständigen, der frau Sch.´s beweggründe
erforschen sollte.
mir scheint hier eine seelische störung vorzuliegen, die möglicherweise zum frei-
spruch führen könnte.
richter: (nach kurzer entgleisung seiner züge wieder gefasst, zieht die nase
hoch, reckt sich und erklärt, dass sich das gericht zur beratung zurückzieht.)
...wir machen eine pause von 15 minuten.
...
(richter, beisitzer, ankläger und protokollant sowie der justizhauptwachtmeister
betreten den sitzungssaal. frau Schrepke, beine lang ausgestreckt, hängt auf
ihrem stuhl, den kopf nach hinten geworfen, die arme baumeln schlaff zu bei-
den seiten runter.
neben ihr steht rechtsanwalt Hubert Kopplast, vorgebeugt, mit der rechten
hand auf den kleinen tisch gestützt, mit links die stuhllehne festhaltend, auf
frau Sch. einredend.
während sich alle erheben, verharrt frau Sch. in ihrer pose und stösst gelegent-
lich einen aufschreienden seufzer aus. ein bild des jammers.)
richter: (ignoriert die respektlose ungebührlichkeit; betätigt die glocke) auf an-
trag der verteidigung wird die sitzung vertagt auf den 28. märz. bis dahin soll
eine ärztliche begutachtung erfolgen zur klärung der frage, ob bei der ange-
klagten eine seelische störung vorlag, die zur zurechnungsunfähigkeit geführt
hat.
die sitzung ist geschlossen.
wiederaufnahme des verfahrens am 28. märz
...
richter: herr sachverständiger, sie kommen zu dem schluss, dass bei der ange-
klagten eine gravierende psychische störung vorgelegen hat und letztlich zu
der kurzschlussartigen handlung der anzeigenaufgabe führte. sie haben ferner
dargelegt, dass diese psychische störung gekennzeichnet war durch eine de-
pressive symptomatik, verbunden mit - ich zitiere - traurigkeit, antriebsverlust,
schlafstörungen, nahrungsverweigerung usw... entsteht denn da nicht ein
widerspruch zwischen dieser symptomatik auf der einen und der handlungs-
fähigkeit auf der anderen seite?
sachverständiger: es hat lediglich den anschein eines widerspruchs. die ge-
samte symptomatik ist ja ausgelöst worden durch das massive kränkungs-
erlebnis im treppenhaus, als die nachbarin ihren spruch „die sieht ja aus wie
ihr rüde...“ von sich gab. verstärkend wirkten dann das eigene spiegelbild und
zusätzlich bestätigend die notiz in der illustrierten beim arzt. nun erzeugt jede
seelische erschütterung nicht nur lähmung sondern gleichzeitig auch initiativen
zur bewältigung der störung, und in diesem fall war es die idee, sich von dem
hund zu trennen, um die verknüpfung „hundegesicht – eigenes gesicht“ aufzu-
lösen und damit die seele zu entlasten. so kam es zur aufgabe der kleinanzeige.
richter: wenn also die tat nicht im widerspruch zur seelischen beeinträchtgung
steht, muss schuldfreiheit angenommen werden; denn unter dem widerstreit
der gefühle war die steuerungsfähigkeit der angeklagten nicht mehr gegeben,
wie der sachverständige darlegte.
das unrechte ihrer tat zu erfassen und entsprechend zu handeln war ihr nicht
möglich. die angeklagte ist deshalb von dem vorwurf, das hundescheidungs-
recht missachtet zu haben, freizusprechen. mit den kosten des verfahrens
wird die justiz belastet. –
frau Schrepke, möchten sie dazu noch etwas sagen?
Sch.: (schaut mit abwesendem blick und offenem mund langsam vom richter
zum pflichtverteidiger, schluckt, beugt sich nach vorne, stützt die hände auf
den tisch) mir is schlecht, kann ich mal raus?
richter: die sitzung ist geschlossen
pflichtverteidiger: frau Schrepke, es ist alles in ordnung, sie sind freigespro-
chen, sie können nach hause gehen...
Sch.: das is zu weit, ich muss hier...
(aus heft 7 des "kot und köter"- magazins, mai 2016)
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2016