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david p. eiser
 

zeitraffer



 
DER SPIEGEL nr. 48  25-11-23

betrifft:   nur die verzweiflung kann uns retten
              von Natan Sznaider


sehr geehrter herr Sznaider,

sie schreiben: „den selbstlosen universalismus, der sich in den vergangenen jahr-
zehnten im Westen als politische vernunft herausgebildet hat, gibt es für Israelis
nicht...“
das ist in meinen augen der zentrale knackpunkt im Nahost-konflikt.

weder die Israelis noch die Palästinenser sind offensichtlich in der lage, diese er-
kenntnis zu verarbeiten und die konsequenzen zu akzeptieren. keine partei löst
sich von ihren überkommenen feindbildern und bereitet sich vor auf ein friedliches
und gedeihliches zusammenleben mit den nachbarn, um zur stabilisierung der
region das entscheidende mass an einsicht und bewältigungsbereitschaft zu de-
monstrieren.

seit nunmehr fast 80 jahren dreht sich an dieser stelle des globus eine zeitspirale,
die in gewissen abständen zu immer gleichen zuständen führt: konfrontation mit
massiver gewalt und gegengewalt sowie anschliessendem „erholen“ mit wiederauf-
bau und unbeholfenen „verhandlungen“, wobei die urheber des ganzen sich vage
als vermittler und unterstützer anbieten, ohne auch nur auf einer der beiden seiten
etwas durchsetzen zu können/wollen (UNO als nachfolger des Völkerbundes und
Grossbritannien als nachfolger des mandatinhabers).

natürlich sind die gründe für die vorwiegend nord- und osteuropäischen jüdischen
einwanderer, die man dorthin gebeten, gelockt hatte, aus dem zugewiesenen le-
bensraum einen eigenen staat zu machen, gut nachvollziehbar. es ist auch ver-
ständlich, dass sie bei ihrer leidvollen vorgeschichte dazu neigten, einen jüdisch
dominierten staat zu bilden. aber dies zu tun, ohne die dort seit jahrhunderten le-
bende bevölkerung um erlaubnis zu fragen, ist schon ein erster stolperstein, um
sich unbeliebt zu machen. dass an diesem punkt Völkerbund und Grossbritannien
als initiatoren für das entstehen eines völkerrechtswidrigen aktes vollkommen ver-
sagt haben und in grosskotziger postkolonialer art land angeboten haben, das ih-
nen überhaupt nicht gehörte, bleibt als ungeheuerlichkeit bis zum heutigen tag
als ein wirkmächtiger faktor der spiraligen zeitkreisdynamik erhalten.

in den seit ende des 2. weltkriegs vergangenen jahrzehnten hat sich Israel zu
einem mächtigen staat in Nahost entwickelt, der wirtschaftlich, wissenschaftlich
und militärisch die volksgemeinschaft der Palästinenser haushoch überragt, so
dass bisher alle versuche der Palästinenser, auf dem verhandlungsweg oder via
paramilitärischer operationen einen erfolg zu erzielen, der ihrem streben nach
unabhängigkeit sowie anerkennung gleicher rechte entgegen gekommen wäre,
gescheitert sind. und nach analyse des bisherigen verlaufs dieser dauerkrise
muss davon ausgegangen werden, dass sich diese zeitspirale genauso weiter-
dreht wie bisher, wenn nicht endlich ein entscheidendes eingreifen von aussen
erfolgt; denn die beiden kontrahenten sind nach fast 80 jahren völlig vergebli-
chen kämpfens unfähig, sich selbst aus diesem sumpf zu ziehen.

die Palästinenser wissen seit jahrzehnten, dass Israel sich mit brutaler waffen-
gewalt gegen die palästinensischen angriffsversuche zur wehr setzt, und die
Israelis wissen, dass die Palästinenser trotz dieser zermürbenden gegengewalt
irgendwann wieder ihre raketen gen Israel schicken werden. und beide parteien
begründen ihre aktionen mit denselben argumenten: wir verteidigen unser land
und unsere rechte.

die frage ist, wie lange will die welt sich dieses schauspiel noch ansehen, ohne
endlich einzugreifen und diesen schwachsinn zu beenden, der mit zunehmender
brutalität letztlich nur tote und versehrte und zerstörung und vernichtung und
vor allem hass nach sich zieht? auf beiden seiten, ohne dass auch nur eine sei-
te davon profitieren würde.

wenn wenigstens Israel bereit wäre, ein starkes humanitäres signal zu setzen,
Israel, der mächtigste staat in nahost, der es sich wirklich leisten könnte und des-
sen image es international endlich mal guttun würde, dann liesse sich wenig-
stens ein hauch von hoffnung schöpfen auf frieden und gleichberechtigung.

leider hat Israel wieder nur zu kurz gedacht. welch ein signal wäre es gewesen,
hätte man der zivilbevölkerung von Gaza angeboten, vor den beginnenden mili-
tärischen operationen ins nahe Israel zu kommen, um in sicherer entfernung
dem todbringenden ringen gegen die Hamas, der unkoordinierten flucht rich-
tung Sinai, dem hunger, dem durst... entkommen zu können.
verpasst. schade.

aber ein argument mehr dafür, diesen beiden völkern – wie Deutschland nach
`45 – eine demilitarisierung und eine militäradministration zuzumuten, bis sie
kapiert haben, dass sie lernen müssen, in einer demokratisch gelenkten völker-
gemeinschaft zu leben, um sich ungefährdet von den nachbarn entwickeln
zu können.

für ethnokratien kann es in unserer globalisierten welt in der heutigen situation
(klimawandel) keine fürsprache mehr geben.

am ende schreiben Sie als fazit aus dem überfall der Hamas am 7. Oktober:
“...aber nichts als nur Verzweiflung kann uns retten.“ da bin ich mir nicht sicher.
verzweiflung ist ein schwer zu handhabender psychischer ausnahmezustand.
um in eine positive entwicklung zu steuern, bedarf es eines klaren, emotinal
nicht belasteten verstandes. verzweiflung ist ein ohnmachtsgefühl und findet
sich am frustrierenden ende aller bemühungen und versuche, eine wende her-
beizuführen. das heisst aus meiner sicht als aussenstehender: Sie sind in einer
sackgasse gelandet (die man nur verlassen kann, indem man versucht zu wen-
den).

also, gehen Sie zurück, verlassen Sie die gasse an der nächsten oder übernäch-
sten abzweigung. halten Sie ausschau nach übersehenen gegebenheiten, igno-
rierten tatsachen, verpassten gelegenheiten. ordnen Sie neue wahrnehmungen
und alte erfahrungen nach brauchbarkeit und untauglichkeit. versuchen Sie, ihr
bisheriges verhalten und ihre bisherigen entscheidungen kritisch zu beleuchten
und forschen Sie an allen stellen nach möglichkeiten, anders, zukunftfähiger, ge-
schmeidiger, entgegen-kommender und ihrer stärke entsprechend generöser zu
handeln und den gegner auf augenhöhe als mitbewerber zu gewinnen und
nicht als feind klein zu kriegen.


das gebot der stunde sollte daher lauten:
mut zum aufbruch auf der suche nach einem neuen horizont!
fangen Sie an mit der frage: was haben wir noch nicht probiert, um die
palästinensische bevölkerung auf unsere seite zu ziehen?


mit freundlichen grüssen

David Eiser

©  dpe
Nov. 23


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