ars-et-saliva
 
 

david p. eiser

zeitraffer
 


der mensch hat ausser chancen nichts zu bieten. auch keine WÜRDE.


-    der mensch, auch der neugeborene, zum beispiel, „schenkt“ keine
freude. sein erscheinen verursacht lediglich freudengefühle bei seinen
betrachtern.

-    das kind, „unser sonnenschein“, bringt weder wärme noch licht.
seine existenz verursacht wahrnehmungsreize beim betrachter, der sie
zu wohlgefühlen umformuliert.

-    mein partner „gibt mir kraft“ in schwierigen zeiten? nein, kraft kann
man nicht geben, wohl aber entwickeln, zum beispiel, wenn man von
etwas positivem stimuliert wird.

erkenntnis: wir ziehen unser gegenüber per wahrnehmung in das kom-
plizierte netz unserer eigenen wünsche und vorstellungen und projizieren
diese zurück auf den anderen, und genau so entsteht auch WÜRDE.

sie wird nicht besessen und abgestrahlt, sie ist nicht genetisch vorpro-
grammiert, sondern sie wird verliehen. sie ist ein von anderen menschen
ausgesuchtes und projiziertes attribut. sie ist daher - wie alles andere
von menschen definierte - ein relatives etwas, das nur in der aktuellen
begegnung aufscheint, und zwar nicht, weil etwa eine dem individuum
innewohnende WÜRDE ihre aufmerksamkeit fordert, sondern erst wenn
die voraussetzungen zum „würdigen“ beim betrachter gegeben sind.
der würdenträger spiegelt lediglich die wahrnehmungen seines gegen-
übers.

(einschränkend ist festzuhalten, dass es situationen - und konventionen -
gibt, die würdigendes verhalten verlangen, unabhängig von eventuell
gegenteiligen wahrnehmungen eines betrachters. dies gilt beispielsweise
auf der diplomatischen ebene.)

-    kann man mich „meiner“ WÜRDE berauben? ja. wenn ich als bürger-
meister ungerechtfertigt von wilden horden aus dem amt geworfen werde
und auf diese weise meinen status als gemeindevorstand verliere. dann
habe ich „meine“ WÜRDE als amtsträger verloren.

-    kann ein nachbar „meine“ WÜRDE antasten? ja. wenn er mich auf
offener strasse oder im sozialen netzwerk  beleidigend angreift. in die-
sem fall ist „meine“ WÜRDE allerdings nur eine empfindung von signalen,
die ich aus meiner umwelt empfange und in der summe mit „mein anse-
hen, mein image“ beschreibe. sie ist nichts, was als charaktermerkmal in
mir steckt.

-    kann ich „meine“ WÜRDE verlieren? ja. denn es handelt sich um ein
von aussen angehängtes etikett, das jederzeit auch von aussen wieder
entfernt werden kann. möglicherweise haben sich die beurteilungskri-
terien der betrachter geändert. oder ich habe mich von den wertvorstel-
lungen der anderen entfernt, mich also selbst der würdigenden beurtei-
lung entzogen.

-    behält ein mörder, wenn er in einer lebensbedrohenden situation von
einem polizisten in akuter notwehr erschossen wird, seine WÜRDE?
selbstverständlich, aus der sicht des bandenbosses, für den er gemordet
hat. aber nicht aus der sicht der gesellschaft, die den zutreffenden straf-
rechtsparagraphen respektiert.
denn er hat sich doch ganz bewusst und ggf. sogar dezidiert gegen die
gesellschaftsordnung gestellt.
schliesslich geschah die tötung durch den polizisten in akuter notwehr.
es war eine eindeutige er-oder-ich-situation und keine selbstjustiz...

es gibt keine „menschenwürde“ per se, ohne ein wesensgleiches gegen-
über. menschenwürde ist immer das ergebnis einer subjektiven fremd-
beurteilung und unterliegt der kritik- und urteilsfähigkeit, den launen,
ansichten und vorlieben des beurteilenden sowie den gesellschaftlichen
strömungen und den mit ihnen einhergehenden veränderungen von
menschen- und weltbild.
WÜRDE hat der mensch nicht zu bieten. sie wird ihm lediglich gewährt.

zu bieten hat er dagegen chancen: anpassung, geselligkeit, vermittlung,
zuwendung usw.; lauter eigenschaften, die sich im gesellschaftlichen
miteinander hervorragend bewähren.

WÜRDE zu empfinden ist bestenfalls die interpretation eines dankes-
zeichens aus der umwelt, schlimmstenfalls eine fehlerhafte selbstein-
schätzung.

 


 
 

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2016