ars-et-saliva


david p. eiser
 

zeitraffer



morgen. -

 

oder übermorgen...


...ist allerdings das Dasein anzusehen als eine Verirrung, von welcher zurückkommen Erlösung ist... Als Zweck unseres Daseins ist in der Tat nichts anderes anzugeben als die Erkenntnis, daß wir besser nicht da wären...        (Schopenhauer)

 

der tag wird kommen, da gibt es keine wohnungsnot mehr, keine schlangen an der super-
marktkasse,
keine überfüllten märkte, keine staus auf den strassen, keine unpünktlichen
züge, keine liegengebliebenen autos, nur noch ein paar übriggebliebene vertäute schiffe
in den häfen, stehengebliebene flugzeuge, ausrangierte züge...

*

ich schliesse meine augen und träume mich hinüber zu diesem punkt auf dem zeitstrahl.
es umgibt mich ruhe, und auch in mir bewegt sich nichts, was mich beunruhigen könnte.
entspannt schlafe ich ein und überlasse meine existenz dem smarten begleitsystem, das

mich seit etlichen monaten führt und leitet.

 

keine staus mehr auf den strassen?... sind sie so breit geworden, dass alle reichlich platz
haben? nein, im gegenteil. jährlich werden hunderte kilometer strassenbelag, eisenbahn-
trassen, start- und landebahnen entfernt, eingeebnet, grünflächen erzeugt...
vierundzwanzig stunden täglich, an sonn- und feiertagen sind die roboter zugange, zentral
beauftragt und überwacht, lokal selbstgesteuert verrichten sie ihre arbeit, zentimetergenau.
auf die sekunde passend legen die transportfahrzeuge an, um den dreck aufzunehmen
und wegzukarren, GPS-gesteuert, unbeirrt, unabhängig von arbeitszeitpausen, unwohlsein
der fahrer, verkehrsbehinderungen auf ihren wegen... und im takt der delaborierungsarbei-
ten rücken die rekultivierungsmaschinen heran, tragen mutterboden auf und decken die
vernarbenden wunden der landschaft mit saftigem rollrasen zu, setzen vereinzelt büsche
ein oder pflanzen hier und da, nach zufall oder planung, ein bäumchen ein.

scheu tauchen einige vögel auf, wenn der roboterkoloss vorbeigezogen ist, mustern das
frische grün, probieren die zweige in den bäumchen aus und warten darauf, dass sich in-
sekten, käfer und würmer melden, um sich von ihnen verspeisen zu lassen. die wildschwei-
ne auf ihren nächtlichen touren freuen sich darüber, dass sie sich die hufe nicht mehr auf
dem harten asphalt wundlaufen müssen sondern geniessen das weiche gras und kontrol-
lieren schon mal, ob sich darunter etwas essbares findet.

*

die städte haben sich gewandelt. es ist sehr ruhig geworden, nahezu menschenleer. ge-
schäfte gibt es nicht mehr, seit zentrale produktionsstätten und warenlager alles bevorraten,
womit man sich noch eindecken möchte. auf der projektionswand in der eigenen wohnung
kann man sich ansehen, was man erwerben könnte, wenn man noch keine genaue vorstel-
lung davon hat. per sprachaktivierung lässt sich dem zentralrechner sagen, wohin man ein
möbelstück plaziert haben möchte. die 360-grad-cameras an der zimmerdecke vermitteln
auf befehl ein rundumbild an das möbelorganisationszentrum. bei der rückmeldung präsen-
tiert die produktionsstätte auf der projektionswand unterschiedliche modelle an geeignet
erscheinenden stellen im wohnraum, im schlafzimmer, im bad oder wo auch immer im haus,
und der nutzer kann wählen, ob er die auswahl per sprachbefehl trifft oder es den signalen
aus der hirnrinde und dem willensbildungszentrum des gehirns überlässt, den befehl via
sensoren drahtlos zu übermitteln.

aus den geschäften früherer zeiten sind wohneinheiten geworden, kleine wohnungen, ap-
partments, weitgehend ebenerdig und barrierefrei. tausende quadratmeter in den städten
standen für umbauten zur verfügung. niemand wollte seitdem in der vorstadt oder im um-
land wohnen, alle drängten zurück in die relative enge der innenstädte, um sicher zu gehen,
dass das leben ohne störungen stattfinden könnte oder bei störungen wenigstens schnelle
hilfe zur stelle sein würde.

*

verkehrsschilder und ampeln sind von den strassenrändern verschwunden, parkstreifen,
parkplätze und garagen sind überflüssig geworden. reklametafeln an den häuserwänden
sind längst rezykliert. werbung gibt es nur noch virtuell. der architektonisch vorgegebene
fassadenschmuck bleibt als einzige zier an den gebäuden zurück und verleiht ihnen eine
gewisse strenge. die fülle der anzeigen, die früher die leute gelenkt und verwirrt hatten,
ist einfach verschwunden, unvermisst, unersetzt. geschichte.

wenn sich ein mensch durch diese strassen und gassen bewegt, dann sind es meist ope-
ratoren, die in fällen nicht selbstheilender havarien tätig werden und zu ihren einsatzorten
eilen. im übrigen sehen die strassen aus wie geleckt; denn müll und abfall gelangten ja
nur dahin, wenn sie vom menschen verbracht und achtlos entsorgt wurden. seitdem wir
alle in unseren wohnungen leben und uns verpackungsmüllfrei ernähren lassen, gibt es
keine notwendigkeit mehr, das haus zu verlassen und eventuell unterwegs auch noch
etwas zu essen oder zu trinken zu kaufen.

unser täglicher persönlicher energiebedarf wird als flüssigkeit über vorinstallierte leitun-
gen geliefert, wie brauchwasser und heizungswärme, elektrizität und kommunikation.
feste nahrung wird in metallcontainern per rohrpost zugesandt und automatisch in der
empfangsbox auf 60 grad erwärmt. abgerechnet wird, wie üblich, mit hilfe eines punkte-
systems, automatisch, das sich seine informationen über entgeltpflichtige leistungen
direkt von den sensoren und zählern der jeweiligen haushalte holt.

*

wer will, kann seine gesamten bedürfnisse elektronisch erfassen lassen und die bearbei-
tung und versorgung dem zentralrechner des beschaffungsamtes überantworten: vollver-
sorgung. allen solchermassen abgesicherten personen stehen die höchsten entgeltpunk-
tesummen zur verfügung. das heisst, dass sie die steuerung ihrer lebensführung komplett
der verfügungsgewalt des zentralrechners unterstellt haben und somit keine zusätzlichen
begleit- und hilfemassnahmen beanspruchen wie teilversorgte, die meinen, sie müssten
noch irgendetwas selbst regulieren.

eingewebte sensoren erfassen beispielsweise informationen über den abnutzungsgrad
der kleidung und senden diese an den zentralrechner. dieser schlägt sodann dem bürger
automatisch ein ersatzteil vor, das vom individuum abgerufen werden kann. die ausliefe-
rung erfolgt ebenfalls vollautomatisch. gegenstände bis zu einer gewissen grösse werden
im postkasten des zielgebäudes deponiert. bei grösseren objekten wie maschinen, möbel
o.ä. erfolgen anlieferung und ggf. installation noch konventionell.

dies ist üblicherweise der fall, wenn das gebäude noch nicht an das versorgungsnetz an-
geschlossen ist. das heisst, wenn noch eine konventionelle haushaltsführung stattfindet,
wobei wäsche selbst gewaschen und getrocknet wird; oder wenn zum beispiel nahrungs-
mittel noch diskret bestellt und geliefert werden, um daraus spezielle mahlzeiten zu berei-
ten, was wiederum umfangreiche reinigungsarbeiten per hand oder spülmaschine zur
folge hat...

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der abgasfreie strassenverkehr hält sich in engen grenzen. privates autofahren gibt es
nicht mehr. liefer-, hilfs- und reparaturdienste sowie krankentransporte und feuerwehr,
bemannt oder autonom, haben freie fahrt. grenzkontrollen sind seit der aufhebung der
nationalstaaten nicht mehr erforderlich. damit sind auch alle militärischen einrichtungen
überflüssig geworden. die soldatenberufe sind obsolet. in den kasernen wurden deshalb
die ersten genormten einraumwohnungen geschaffen mit genügend platz auf ca 30 qua-
dratmetern für singles. die kasernengelände waren die ausgangspunkte für die installa-
tionen des vollversorgungssystems. seitdem hat die zahl der singles stetig zugenommen.

das bevölkerungswachstum auf der erde ist rückläufig. die zahl von zuletzt fast 12 mil-
liarden menschen hat sich in gut 100 jahren vermindert bis auf 5.4 milliarden. die sterbe-
rate schwankt seit langem um ca 70 millionen jährlich. ein ausgleich durch geburten ist
schon sehr lange nicht mehr möglich. im vergangenen jahr waren es mit 62.2 millionen
wieder ca 4 prozent weniger als im vorjahr.

zudem ist die lebenserwartung weltweit stark gesunken, inzwischen auf 55.6 jahre für
männer und knapp 58 jahre für frauen. auch dies trägt dazu bei, die von damals bekann-
te wohnungsnot zu lindern und die wohnqualität der übrigen zu erhöhen; denn alte,
verlassene bausubstanz kann ersatzlos geschliffen und durch begrünung ersetzt werden.

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das leben spielt sich im wesentlichen in den eigenen vier wänden ab. die wohnung zu
verlassen, würde bedeuten, mit einem unbefriedigten anspruch nach draussen zu gehen.
dies könnte von der zentrale als auffällig eingestuft werden und zu verstärkter beobach-
tung führen. die zentrale müsste dann überprüfen, ob das individuum dazu neigt, ein
aussergewöhnliches mass an eigeninitiative zu entwickeln oder ob die datenerfassung
unvollständig war/ist. im letzteren fall müsste die software modifiziert werden, um tempe-
rament und gefühlslage des individuums exakter zu erfassen und daraus entsprechende,
angepasste angebote zu machen, die das individuum veranlassen, zu hause zu bleiben.

andernfalls würde durch die zusätzlich in anspruch genommene begleit- und rechenzeit
eine mehrbelastung des systems verursacht. es würde sich also der statistisch pro indi-
viduum festgelegte verbrauchsanteil über gebühr erhöhen und automatisch zu einem
punkteabzug und damit zu einer verminderung der versorgungsleistungen führen.

durch den verbleib in der wohnung ermöglicht das vollversorgte individuum dem rechen-
zentrum, die datenströme kontinuierlich abzugreifen und in echtzeit sowohl verbindliche
termine wie auch individuell angepasste vorschläge für den tagesablauf zu liefern und
möglichst attraktiv auf der projektionswand darzustellen. unmittelbares ziel dieser vor-
gehensweise ist immer, das individuum so eng wie möglich an die projektion zu binden
und seine bedürfnislage möglichst umfassend zu erkennen, damit die elektronischen
begleitmassnahmen ausserhalb der wohnung auf ein mindestmass beschränkt werden
können.

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berufliche tätigkeiten erstrecken sich auf einen kleinen kreis von hilfe gebenden verfah-
ren. dazu gehören auch assistierende tätigkeiten, die von autonomen systemen nur
unbefriedigend oder gar nicht wahrgenommen werden. sie erfordern aber keine spezi-
fischen fähigkeiten, setzen also keine hohen bildungsabschlüsse voraus.

das schulwesen konnte deshalb reduziert werden; denn alle höherwertigen tätigkeiten
sind seit langem von den rechnern und den robotern übernommen worden. es gibt also
keine berufsschulen, keine realschulen, keine gymnasien und natürlich auch keine uni-
versitäten mehr, weil ein höherer bildungsanspruch für die grosse masse der menschen
nicht mehr vonnöten ist. was aber unverzichtbar zu vermitteln bleibt, ist im rahmen einer
eingeschränkten grundschulversorgung früherer zeiten zu erzielen: lesen und rechnen,
schreiben als zusatzangebot.

hochqualifizierte berufliche tätigkeiten insbesondere theoretischer art sind nicht mehr
nötig; denn die autonomen maschinen sind schnell lernende systeme, deren fähigkeiten
mit menschlichen mitteln schon seit jahren nicht mehr erreicht werden können. lediglich
höherwertige tätigkeiten wie operatives vorgehen im menschlichen körper oder im be-
reich der forschung erfordern gelegentlich noch handwerkliche unterstützung.

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die entwicklung von neuen produktionsverfahren, das verbessern der performance,
qualitätskontrollen usw. sind zentrale aufgaben der rechenzentren, die auf der basis
ihrer permanent aktualisierten informationen über menschliches wesen und die umwelt
selbst entscheiden, was verbessert werden müsste, worauf verzichtet werden kann
oder was einer erfindung bedarf.

begonnnen hatte dies mit der damals noch politischen entscheidung, die haushalts-
führung des staates einer künstlichen intelligenz zu überlassen. dies entlastete in
grossem umfang parlamente und ministerien, weil es keine streitereien mehr um die
höhe des jeweiligen etats gab. andererseits konnte man sich darauf verlassen, dass
das system in echtzeit alle finanz- und wirtschaftsrelevanten daten erfasste und daraus
sofort entsprechende schlüsse zog und entscheidungen traf, die wiederum den haus-
halt stabilisierten und damit dem staat die notwendige sicherheit boten, als vertrauener-
weckendes zeichen an die bürger.

als nachteilig erwies sich anfangs der verlust der möglichkeiten, wahlgeschenke an-
zubieten. aber im lauf der zeit, als sich immer mehr staaten der weltregierung und
damit der maschinengesteuerten führung unterwarfen, verloren die wahlen ihre eigent-
liche funktion, sie wurden einfach überflüssig, womit sich auch das prinzip der wahl-
geschenke auflöste. ferner ergab sich im rahmen dieser entwicklung nach etlichen
jahren die erkenntnis, dass parteien keinen sinn mehr machen.
hunderte von parlamenten und regierungsgebäuden weltweit wurden überflüssig
und nach und nach abgerissen, sowie einige zu wohneinheiten oder zentralen pro-
duktionsstätten umgebaut.
diese letzteren sind vollautonome systeme und beinhalten im prinzip nichts anderes
als computergesteuerte 3-d-drucker.

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religiöse versammlungsgebäude sind aus den stadtbildern verschwunden. wer einer
religionsgemeinschaft angehört, hat jederzeit die möglichkeit, sich einen stream auf
die projektionswand zu holen, wo beliebig viele portraits der aktuell online seienden
virtuellen gemeindemitglieder präsentiert werden, wie sie andächtig den worten eines
geistlichen lauschen oder über ihre cameras in die gesichter der mitsingenden zu-
schauer blicken.

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da die weltbevölkerung bereits stark geschrumpft ist und sich offensichtlich kontinu-
ierlich weiter vermindert, ergeben sich am jahresende keine stabilen wirtschaftsleis-
tungszahlen mehr. die statistischen tabellen und kurven lassen eine konstant sinken-
de negative entwicklungstendenz erkennen. es hat den anschein, als ob zusammen
mit der sinkenden bevölkerungszahl eine konzeptionelle vorgabe erfüllt wird, mit dem
ziel, die existenz der menschen in absehbarer zeit zu beenden, ohne dies über eine
ungeordnete revolutionäre schiene laufen zu lassen, still und ohne aufhebens.

die weltregierung bräuchte sich dann nur noch um sich selbst zu kümmern. alles, was
für die menschen erforderlich war, könnte delaboriert, rezykliert und vernichtet werden.
das für die funktionsfähigkeit der weltregierung erforderliche material wäre in übermäs-
siger fülle vorhanden, im prinzip unerschöpflich, weil inzwischen alle benötigte energie
- und das ist ja nur noch ein winziger bruchteil dessen, was die vormals 12 milliarden
menschen verbraucht haben – aus solaren anlagen stammt und der verbrauch von
ressourcen sich auf rezykliertes material beschränken kann.

den planeten dürfte es freuen, dass sich die natur erholen und wieder das zepter in
die hand nehmen kann. ob die weltregierung dann allerdings in der lage ist, freude
und genugtuung zu empfinden, sei zunächst noch dahingestellt.

*

wenn ich aufwache aus meinen träumereien, staune ich über die ruhe, die sich in
meinem inneren ausgebreitet hat. ich schaue auf die projektionswand und lese:
"es hat dir gutgetan. du kannst jetzt gehen und dir die hände waschen; denn die

nächste mahlzeit wird dir in 10 minuten zur verfügung stehen."

ich stehe auf und tue wie mir empfohlen.

 

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© dpe
18012019