ars-et-saliva
 

david p. eiser
 
 zeitraffer


der schläger
 
 

ich war ganz in gedanken versunken; noch immer beschäftigte mich die morgendliche ausein-
ander
etzung wegen der lagerhaltung für den bereich verderbliche güter.

eher automatisch, roboterhaft bewegte ich mich jetzt durch die strassen, um nach hause zu
gelangen. -
ich könnte nicht sagen, dass ich schnell ging, aber dafür, dass ich wie gedanken-
verloren meinen weg gefunden hatte und bereits am museum vorbei war, musste ich doch
wohl recht strammen schrittes
gelaufen sein, als mich plötzlich jemand am rechten arm berührte.

ein mann tauchte neben mir auf, nur wenig kleiner als ich, stämmig, rundliches, glatt rasiertes
gesicht,
etwas bläulich schimmernder bartbereich, fast kahler schädel. er trug einen hellen -
trenchcoat, hielt die
rechte hand in der tasche und legte seine linke an meinen unterarm. er
sah mich mit wachen,
interessierten, ja fast schon hungrigen augen an, durchmusterte neu-
gierig mein gesicht und sagte schliesslich, nachdem er zu einem befriedigenden entschluss
gekommen schien: "sie sind doch
auch ein schläger!"

ich erstarrte, gab mir aber mühe, mein entsetzen zu verbergen. nun war es an mir, diesen
menschen zu mustern, dabei zeit zu gewinnen, um eine antwort zu suchen, ihn einzuordnen,
die situation zu begreifen bezüglich gefährlichkeit oder lächerlichkeit. ich hatte grosse mühe,
ernsthaft weiter zu denken, wollte
mich einfach abwenden und weitergehen, aber er hielt mich
fest, nicht nur mit seiner hand, die ver
gleichsweise locker auf meinem arm lag, nein, vielmehr
waren es seine augen, die mich faszinierten, sein gesichtsausdruck, der nichts gefährliches
an sich hatte, seine gesamte erscheinung, die eher auf einen friedlichen menschen hindeu-
tete als auf einen strassenräuber oder erpresser.

kurz gesagt, er wirkte durch und durch seriös. und wenn er auch einen gespannten eindruck
auf mich machte, so doch nicht etwa als ausdruck irgendwelchen krankhaften geschehens
sondern einfach in
der erwartung, jemanden überrascht zu haben und nun eine rückmeldung,
irgendeine rückmeldung zu bekommen.

"was bringt sie zu dieser vermutung?" fragte ich vorsichtig.

die spannung wich ein wenig aus seinem gesicht, der druck seiner hand auf meinen arm liess
nach, in
seinen augen blitzte es kurz auf, und er fuhr fort: "ich habe sie neulich gesehen, im
stadtpark. wissen
sie noch? als der junge mit dem rad um die hecke kam, beim denkmal..."

ich versuchte mich zu erinnern. es fiel mir schwer. es musste ein tag wie jeder andere gewe-
sen sein,
ohne besonderheit für mich; aber ihn, ihn musste es wohl sehr beeindruckt haben,
dachte ich, und
dann plötzlich fiel mir ein, was er wohl meinte.

"ich habe seitdem oft an sie gedacht", fuhr er fort. "ich bewundere sie. und je länger ich da-
rüber
nachdenke, desto mehr komme ich zu der überzeugung, dass sie auch einer von uns
sind".

wieder war es an mir, mein erstaunen zu beherrschen und zu überlegen, in welche richtung
sich
dieses gespräch noch bewegen könnte. sollte ich mich nicht doch besser entziehen,
mich höflich entschuldigen und davoneilen? unschlüssig trat ich aufs andere bein. mein ge-
genüber schien dies
als fluchtbeginn zu deuten und verstärkte leicht seinen druck auf mei-
nen arm, wirkte plötzlich dring
licher, wandte ein: "gehen sie nicht! lassen sie uns in ruhe
darüber sprechen..."

im stadtpark. neulich. an der hecke. langsam dämmerte mir, was er meinte. allmählich
fing ich an zu begreifen, worauf er hinauswollte. also doch erpressung, dachte ich.

"sie sind wirklich unwahrscheinlich schnell", warf er lächelnd ein, und sein bewundernder
blick
streifte mich. ich wusste nicht recht, ob ich mich geschmeichelt fühlen oder das ganze
als taktisches geschwätz abtun sollte. - er hatte mich also erwischt bei einer angelegenheit,
die mir kaum noch
bewusst war, ihm jedoch offensichtlich viel bedeutete.

neulich, das muss vor etwa zwei wochen gewesen sein. -
"haben sie mir hier etwa aufgelauert?" quetschte ich zwischen den zähnen hervor.

er zuckte zurück, liess meinen arm los, wirkte auf einmal betreten, fast schon beleidigt:
"ich bitte sie.
ich sehe sie heute zum zweiten mal in meinem leben. reiner zufall. aber",
und seine züge hellten sich allmählich wieder auf, "ich freue mich, sie hier getroffen zu
haben. wie gesagt, ich bewundere sie
und wollte sie einfach nur kennenlernen. - wie sie
das mit dem jungen gemacht haben, das war so fantastisch, das macht ihnen so schnell
keiner nach."

sollte er wirklich nur lautere absichten haben, schoss es mir durch den kopf. was hat ihn
denn bloss dermassen beeindruckt, dass er mich fremden menschen einfach anspricht
und mich fragt, ob ich ein schläger sei?  -  und beim weitergrübeln meinte ich, dem kern
seiner beweggründe ein stückchen näherzukommmen.

äusserlich leicht beruhigt, ein nachdenkliches, dabei interessiertes gesicht machend stand
ich hoch aufgerichtet vor ihm. angst hatte ich eigentlich nicht mehr. ein gewisses gefühl
der unsicherheit war
noch in mir, aber ich glaubte, nun doch herr der situation zu sein. -

 

                                                                                            *

neulich im stadtpark. das wars also. wie ich auf das denkmal zugehe, schiesst plötzlich
ein junge auf
seinem fahrrad rechts zwischen den hecken heraus, quer über meinen weg,
um zwischen den
nächsten hecken zu verschwinden. dieser vorgang war noch gar nicht
richtig bis in mein bewusstsein vorgedrungen, als derselbe junge erneut auftauchte, die-
ses mal von links und genau auf mich zuhielt.
abwehrend, reflexartig streckte ich beide arme aus, in denen er sich verfing, von seinem
rad gerissen
wurde und mit mir einmal im kreise herumschleuderte. dabei verspürte ich
eine jähe wut in mir hoch
steigen, die ich schliesslich nicht mehr beherrschen konnte,
und noch bevor der knabe, als ich ihn
losliess, in der hecke landete, hatte er sich zwei
kräftige ohrfeigen eingefangen; dazu den wohlge
meinten rat: "lass dir das eine lehre
sein!"

wie jemand, der gerade erfolgreich gute arbeit geleistet hat, rieb ich mir kurz die hände,
warf noch
einen schnellen blick auf den jungen, der ganz verdattert unter der hecke
hockte, und setzte meinen
weg fort, sogleich wieder in gedanken an berufliche angele-
genheiten. neulich im stadtpark. das wars.
genau das. -

aber was wollte der mann damit? gab das denn ein motiv für einen erpressungsversuch
her? wegen
der zwei ohrfeigen? ich wurde wieder etwas unsicher. andererseits, was
gab es daran zu bewundern?
schliesslich bin ich kein zwerg und in meiner freizeit hinreichend körperlich tätig...

es muss wohl ein stück zufriedenheit in meinem gesicht zu lesen gewesen sein; denn
als ich mich an
die eben geschilderte szene erinnerte, strahlte der mann mich regel-
recht an, berührte wieder meinen
arm und rief - fast schon zu laut für meine ohren - :
"sehen sie, soetwas lässt sich nicht verleugnen!"

und als hätte er meine gedanken erraten, fuhr er fort: "ich wusste es gleich, ja ich
wusste es,"
triumphierte er und hielt eine weile inne, nicht ohne mich weiterhin sorg-
sam zu beobachten. -

gespannt wartete ich nun auf eine erklärung. jetzt wollte ich wissen, was er im schilde
führte. er hatte
mich neugierig gemacht mit seiner freundlichkeit, mit seiner beharrlich-
keit und mit seiner bewun
derung, die mir irgendwie schmeichelte, obwohl ich dem tat-
hergang im stadtpark eigentlich keine grossartigkeit zusprechen konnte. aber wenn
es denn für ihn ein erhebendes erlebnis gewesen sein
sollte, bitte schön. was aber
nun?

er ergriff den kragenaufschlag seines trenchcoats und drehte ihn langsam herum,
sodass ich ein
kleines silbernes abzeichen erkennen konnte. es zeigte, grob stilisiert,
eine ausgestreckte hand.

"haben sie noch keins?" fragte er mich lauernd. ich schüttelte sprachlos den kopf.

"na gut," setzte er hinzu, "wir kommen auch so klar. ganz bestimmt." er nickte mir
freundlich zu und animierte mich zum weitergehen. dabei erklärte er mir, dass er
schon fast drei jahre "dabei sei".


anfangs habe er sehr starke hemmungen gehabt, aber allmählich hätten sie sich
gelegt, und jetzt
sei er ein freier mensch geworden. jede woche habe er ein bis zwei
treffen mit einem gleichgesinnten
- es sei aber nicht immer derselbe, man verabrede
sich telefonisch, je nach bedarf - und hinterher
fühle er sich immer richtig wohl und
regelrecht befreit. die anderen würden dieses gefühl genauso
bestätigen, fügte er
eifrig hinzu. und auch mir werde es sicher gefallen.

noch konnte ich mit seinen aussagen nicht viel anfangen. aber eines hatten seine
anwesenheit und
seine beredsamkeit in mir bewirkt: ich hatte meine beruflichen
querelen völlig vergessen. und
während wir langsam über die brücke gingen, in
die neustadt hinüber, begriff ich allmählich, was
ihn so sehr an seiner freizeitbe-
schäftigung faszinierte und spürte ein wenig von dieser faszination
in mir selber,
konnte mir vorstellen, zu einer verabredung zu gehen und mich von ihm in die

geheimnisse des schlagens einweihen zu lassen und selbst die hand zu erheben,
um mich zu
befreien, abzuschalten und hinauszutreten aus dem täglichen einerlei
von pflichten, routinen, gesellschaftlichen gepflogenheiten und manieren, die mich
wie eine glocke umgaben und mir die
luft nahmen, die ich eigentlich immer schon
atmen wollte.

 
                                                                                             *

so kam es, dass ich bereits zwei tage später, voller unruhe und mit meinen gedan-
ken schon lange
nicht mehr bei der arbeit, am späten nachmittag mein büro ver-
liess - äusserlich wie immer - und
mich unversehens zu unserem ersten verabre-
deten treffpunkt begab.

perdunat heisst der mann übrigens, stefan perdunat. am ende unserer ersten
begegnung hatten
wir uns einander vorgestellt. "die namen genügen," hatte er
gesagt, "alles andere ist völlig un
wichtig; vielleicht noch die telefonnummer. aber
das eilt nicht..."

und da standen wir uns nun gegenüber, unter dem mächtigen brückenbogen. er
begrüsste mich
strahlend, man merkte ihm die aufrichtige freude deutlich an, da-
bei war er jedoch in seiner haltung
und in seinen äusserungen distanziert und
angenehm.

wir kamen sehr schnell zur sache. das heisst, er weihte mich in die "spielregeln"
ein, erklärte mir verhaltensweisen und übte mit mir die wichtigsten gesten, die es
zu beherrschen gilt, um dem
partner zu signalisieren, ob man weitermachen,
unterbrechen, aufhören oder sonstiges will;
denn der schlagabtausch geschieht
in wortloser stille, die nur vom klatschen der schläge
unterbrochen wird. verbale
äusserungen jeglicher art sind verpönt, solange die auseinander
setzung nicht
von einem oder beiden partnern für beendet erklärt wurde.

die vielfalt der regeln und gesten erschreckte mich zunächst. ich bekam es mit
der angst zu tun,
im richtigen moment nicht das adäquate signal geben zu kön-
nen, wichtiges zu verpassen oder
einfach verhaltensweisen, die er mir beige-
bracht hatte (im schnellverfahren sozusagen) zu
vergessen. zudem wusste ich
immer noch nicht genau, was denn nun tatsächlich auf mich
zukommen würde.
würde es wehtun? was wäre, wenn ich plötzlich vor schmerz aufschrie?

würde er mich verachten? oder würde er mich gar zusammenschlagen?

schliesslich sollte alles doch ohne aufsehen zu erregen ablaufen; insbesonde-
re war publikum
nicht erwünscht. es sollte sich um eine private angelegenheit
zwischen ihm und mir handeln,
aber mit dem handicap, sie in relativer öffent-
lichkeit zu erledigen.

und was sollte ich ihm tun? kaum war ich in der lage, mir vorzustellen, einen
anderen menschen
einfach zu schlagen, richtig zu schlagen, nicht nur so zu
tun als ob, ein wenig berühren, knuffen,
nein regelrecht schlagen, zwar unter
einhaltung bestimmter regeln, aber doch kam es mir vor wie
eine art von ge-
waltanwendung. gewalt gegen einen menschen.

gewalt auch gegen mich. aber das berührte mich damals überhaupt nicht.
was mich an dieser
sache interessierte, war das neue. es war wie beim spiel
am roulettetisch. da war einfach nur
die innere spannung. es gab einen teil
unberechenbares und einen teil berechenbares. nur war
hier das grössen-
verhältnis beider anteile zunächst unklar.

trotz, oder vielleicht auch wegen dieser unwägbarkeiten hatte mich eine art
spielleidenschaft
gepackt. das unvorhersehbare hatte mich in seinen bann
gezogen und mich bewogen, rationale gedankengänge beiseitezuschieben
und nur dem gefühl, dem augenblicklichen bedürfnis nach
zugeben, ganz
entgegen meinen sonstigen, insbesondere beruflichen gepflogenheiten.
hier
bahnte sich eine art ausstieg an, ausstieg in etwas unbekanntes hinein,
das mich anzog und
fesselte, gleichzeitig jedoch auch verunsicherte und
ängstigte. aber genau diese mischung
widerstreitender empfindungen und
vorstellungen, das gefühl, zu einem - inneren - kampf ange
treten zu sein,
um mit alten konventionen zu brechen, das wars, was mich in diese situa-
tion
hineingetrieben hatte und mich weiter vorwärtsschob.

                                                                                        *

als perdunat seinen ersten schlag in meinem gesicht gelandet hatte, stand
ich wie versteinert da,
etwas nach vorne gebeugt, ungläubig, enttäuscht,
dann wütend über mich selbst. ich hatte es
nicht wahrhaben wollen, obwohl
er mir alles vorher erklärt und ich ihm mein einverständnis
gegeben hatte.
ich fühlte mich tief getroffen, verletzt, verwundet. wäre ich kind gewesen, ich

hätte laut aufgeheult, anklagend, mitleid heischend.

aber hier gab es feste regeln, an die sich beide partner zu halten hatten,
und so biss ich die
zähne zusammen, liess meine arme hängen, fixierte per-
dunat mit den augen, als wollte ich ihn
an seinen platz bannen, konzen-
trierte mich ganz auf seinen gesichtsausdruck, um heraus
zufinden, wie
und wann er den nächsten schlag ausführen würde.

locker stand er vor mir. nur in seinem gesicht war eine gewisse anspannung
zu erkennen. kein
funken von mitleid oder verständnis, kein bedauern, nur
hohe aufmerksamkeit vor dem
nächsten schlag. und auch dieser traf mich
genauso unvorbereitet und so schmerzlich wie
der erste, sodass ich ein
oder zwei sekunden lang überlegte, ob ich ihm nicht das zeichen
geben
sollte.

am ende dieser kurzen unschlüssigkeit, in deren verlauf ich mich dann doch
entschied, durch
zuhalten, vollführte ich eine mir selbst kaum bewusste, un-
willkürliche bewegung, die durch
ein ruckartiges aufrichten des oberkörpers
und ein leichtes heben des kopfes gekennzeichnet
war. in demselben augen-
blick hatte perdunat erneut zugeschlagen. er verfehlte mich jedoch
und er-
starrte förmlich vor überraschung. er gab mir das zeichen, und wir reichten
uns wie
verabredet die hände, somit symbolisierend, dass diese runde been-
det war.

er stand noch immer vor mir, mich ungläubig anstarrend, wischte sich mit
einem frotteeband
den schweiss von der stirn, der sich ganz plötzlich dort
gebildet hatte und stammelte:
"ich wusste es. - ich wusste es. - sie sind un-
geheuer schnell. - mit dieser schlagfolge habe
ich noch nie verloren. das ist
das erste mal. aber ich habs geahnt. - ich wusste es!"

kopfschüttelnd stand er vor mir, mich unverwandt anblickend. - in mir waren
ganz verschieden
artige gefühle gleichzeitig vertreten. einerseits war ich froh,
die erste runde überstanden zu
haben, ohne mir eine allzu offensichtliche
blösse gegeben zu haben. froh, den ersten schmerz
vergessen zu können.

andererseits war ich zunächst ziemlich verdutzt, denn meine ausweichbewe-
gung, die mich
vor dem dritten schlag bewahrt hatte, war ja keineswegs ge-
plant gewesen sondern eher
zufallsbedingt. trotzdem machte sich ein kleines
gefühl von stolz in mir breit, aber doch
auch wieder deutlich gedämpft durch
die erkenntnis, dass es eigentlich nicht mein verdienst
war, was die erste
runde beendet sondern eine nur unwillkürliche bewegung, die mich vor
wei-
teren schlägen bewahrt hatte.

perdunat hatte sich inzwischen von seiner überraschung erholt und fragte
vorsichtig, ob wir
in die zweite runde gehen könnten. ich hatte nichts dage-
gen, zumal es nun an mir war, ihn
zu schlagen. wobei ich, wenn ich ehrlich
bin, zugeben muss, dass ich eine gewisse vorfreude
empfand, ein stück
genugtuung, eine herausforderung, zu zeigen, dass ich kapiert hatte,
wo-
rauf es ankam und nun auch mir selbst beweisen wollte, dass ich nicht nur
unwillkürlich
reagieren sondern auch gesteuert agieren konnte.

wir wurden gestört durch ein paar jungen, die mit ihren fahrrädern an uns
vorbeibrausten
und laut johlend den hall unter dem brückenbogen provo-
zierten. deshalb tauschten wir
locker einige belanglose worte aus und ga-
ben uns den anschein, als wären wir im gespräch
zufällig hier stehen ge-
blieben. schliesslich, als die kinder ausser sicht waren, begannen wir
die
zweite runde.

als perdunat eine leicht nach vorne gebeugte haltung einnahm, wurde ich
aufmerksam. "aha",
dachte ich, "das ist also angeraten; offensichtlich, um
mehr ausweichspielraum zu haben,
ohne das gleichgewicht zu gefährden."
- was ich eben in der ersten runde instinktiv gemacht
hatte, erschien dem-
nach durchaus empfehlenswert. - ich lockerte mich, wedelte leicht mit den

händen, hielt sie aber beide noch unten und kam dabei auf die idee, ihn zu
täuschen.
blitzschnell erhob ich beide arme gleichzeitig und entschied mich
im letzten augenblick, ihn
mit der rechten hand zu treffen, was mir auch
gelang.

er zuckte zusammen und wirkte auf mich für einen kurzen augenblick wie
ein geschlagenes
tier. die wucht des schlages hatte ihn etwas zur seite ge-
dreht, und als er sich wieder auf
richtete, um seine ausgangshaltung einzu-
nehmen, traf ihn bereits mein zweiter schlag,
ebenfalls mit der rechten
hand. seine wange rötete sich zusehends. ich räumte ihm eine
kurze chance
ein, um eventuell das zeichen geben zu können, aber er machte keine ent-

sprechenden anstalten.

er schien jetzt doch sehr auf der hut zu sein. möglicherweise - so mein kal-
kül - ging er davon
aus, dass ich nur mit rechts schlagen würde, aber da
sollte er sich täuschen. ich schoss
meine linke hand gegen sein gesicht
und traf ihn heftig an der schläfe und meinen über
raschungsvorteil nutzend,
setzte ich gleich mit rechts nach, hatte mich aber in der hitze des
gefechts
verrechnet.

der schlag ging so deutlich daneben, dass ich nun an der reihe war, verdutzt
zu sein, während
perdunat ein gewisses, ich meinte sogar schadenfrohes
lächeln nicht unterdrücken konnte.

etwas ratlos betrachtete ich meine schmerzhaften handflächen und finger
und fragte mich
immer wieder, woran es gelegen haben mag, dass ich der-
art versagt hatte. verflogen war die
euphorie der ersten sekunden dieser
zweiten runde. ärger stieg in mir auf, als ich mir noch
einmal in gedanken
den hergang vergegenwärtigte. ich hatte an einem ganz bestimmten
punkt
versagt. und das ende dieser runde war kein zufallsergebnis auf seiten per-
dunats -
so wie bei mir im ersten durchgang - sondern ganz klar und ein-
deutig bedingt durch einen
taktisch und handwerklich miserabel geführten
schlag meinerseits und eine hervorragende
ausweichbewegung meines
partners.

                                                                                    *

das sogenannte anfängerglück hatte mich bereits verlassen, als perdunat
zum schlag
ausholte. ich spürte gleich, dass es ihm gelingen würde, mich
erneut zu treffen, und zwar
so, dass es schmerzte. körperlich und seelisch.
ich war innerlich noch nicht wieder bereit,
in die nächste runde zu gehen.
mein gehirn war noch immer mit dem bisher geschehenen
beschäftigt.

ich war abgelenkt. meine aufmerksamkeit war geteilt. eigentlich war ich
gar nicht gewillt, weiter
zu machen. erst hätte ich zeit gebraucht, um das
erlebte zu verarbeiten. aber selbst darüber
konnte ich mir jetzt keine re-
chenschaft ablegen.

perdunat schlug zum zweiten mal zu. es brannte messerscharf. er zog
kurz die augenbrauen
hoch und gab mir das zeichen.

"wir müssen aufhören," sagte er mit ruhiger stimme. und es klang sogar
etwas wie besorgnis
hindurch, so dass ich mich auf einmal wieder beschützt
und sicher fühlte. "es hat keinen
zweck. sie sind nicht bei der sache. es tut
mir leid. ich hätte es eher merken sollen," ergänzte
er und bewegte leicht
seinen kopf hin und her, als machte er sich selbstvorwürfe.

dann griff er mit der rechten hand in seine manteltasche und zog ein päck-
chen zellstofftupfer
heraus. er reichte es mir mit den worten: "hier, wischen
sie sich das blut ab, bevor es auf den
kragen tropft."

er hatte mich am wangenknochen erwischt, und im gefolge meiner - eher
unwilligen - abwehr
bewegung hatte er mir ein stück weit die haut aufgeris-
sen. aus der anderen tasche holte er
eine kleine dose mit heftpflastern
hervor, zog eins ab und versorgte meine wunde recht
fachkundig und ge-
schickt. die benutzten tupfer liess er sorgfältig in einem plastiktütchen
ver-
schwinden, das er schliesslich mir in die hand drückte. spuren wollten wir
hier nicht
hinterlassen.

                                                                                        *

auf dem weg zurück in die innenstadt gingen wir zunächst schweigend
nebeneinander her.
ab und zu warf perdunat einen kurzen blick von der
seite auf mein gesicht, schien aber
zufrieden zu sein mit dem, was er sah.

in mir kämpfte es immerfort weiter. ganz widersprüchliche gefühle be-
herrschten mich,
ständig wechselnd. immer wieder ging mir diese begeg-
nung durch den kopf. immer noch
einmal durchlebte ich die höhepunkte
und die tiefen dieses ereignisses. völlig aufgewühlt
blieb ich schliesslich
stehen und legte meine hand auf perdunats arm, einfach um inne zu
hal-
ten, um durchzuatmen, wie wenn ich eine verschnaufpause benötigt hätte.

er verhielt seinen schritt und blickte mich an, lächelnd, aber nicht mehr
schadenfroh sondern
irgendwie freundlich, verständnisvoll, ganz ruhig
und sicher. ich war glücklich, ihn an meiner
seite zu haben, physisch und
offensichtlich auch gedanklich; und trotzdem nicht ohne eine
gewisse dis-
tanz, nicht ohne den eindruck zu vermitteln, ein wenig "drüberzustehen".
er
wirkte so erfahren auf mich, so geduldig, offen und verhinderte durch
seine gegenwart, dass
ich ins bodenlose fiel.

"ich kann noch nicht allein sein," stammelte ich, "aber andererseits..."

"lassen sie uns noch ein paar minuten zusammen laufen," sagte er sanft,
und ich atmete
erleichtert auf, als er sich zum weitergehen anschickte.

ich brauchte das jetzt. nur nicht allein sein. aber bitte auch keine fragen,
keine diskussionen,
keine erklärungen, entschuldigungen, vorwürfe, nichts,
nur schweigen, aber an meiner seite,
mit mir, für mich. das wars, was mir
gut tat. so gut.

als wir uns trennten und uns die hände gaben, brachte ich nach ein paar
sekunden des zögerns
lediglich die worte "ich danke ihnen." über die lippen.
er schaute mich kritisch an, nickte dann
nur ernst und überreichte mir
schliesslich ein schmales weisses kärtchen, auf dem sein name
und eine
telefonnummer - letztere handschriftlich - zu lesen waren. ich nahm bei-
des unbewegt
zur kenntnis. -

er nickte mir zu, erhob noch kurz die rechte zum gruss und verschwand
alsbald in der menge.
diese begegnung lag mir tagelang auf der seele.
wieder und wieder durchlebte ich in gedanken
den ablauf des nachmittags,
spürte immer aufs neue die erregung, die mich beim schlagen
gepackt hat-
te, genoss die hochgefühle von stolz und überheblichkeit beim ersten erfolg
und
liess mich hineinziehen in die trübe aggressivität beim gedanken an
mein klägliches versagen.
ich ärgerte mich über die unfähigkeit, meine ge-
fühle kontrollieren zu können und verwünschte
von zeit zu zeit diese be-
gegnung, war auch drauf und dran, die namenskarte einfach weg zu
werfen
und alles wie einen alptraum zu vergessen.

jedoch nach etwa zehn tagen - die berufliche realität hatte mich eingeholt
und mir immer weniger
zeit gelassen, das erlebte wieder und wieder nach-
zuempfinden - war ich endlich in der lage, relativ
nüchtern über alles nach-
zudenken und mich nicht mehr von meinen gefühlen hin- und herreissen

zu lassen. fast wie neugeboren empfand ich mich plötzlich, als ich feststell-
te, dass ich wieder frei
denken und handeln konnte. und so wurde es denn
auch endlich möglich, zum telefon zu greifen
und perdunat anzurufen, oh-
ne dass die hand zitterte vor aufregung, ohne dass die stimme anfing
zu
beben.

                                                                                            *

wir trafen uns in einer kneipe am dom. - er musterte mich kritisch, versuchte
mich einzuschätzen
bezüglich meiner motive, ihn heute hier zu sehen, lag
auf der lauer, um herauszukriegen, wie es
weitergehen sollte; wartete hin-
gegen beharrlich bis ich anfing zu erzählen, wie es mir ergangen
war in all
den tagen, was mich bewegt hatte, aufgestört, begeistert aber auch abge-
schreckt und
verwüstet.

sehr einfühlsam war er mir entgegengekommen, behutsam hatte er sich
meiner gefühle und
gedanken angenommen, und ich hatte wieder diesen
warmen mantel von vertrauen und sicher
heit in seiner nähe gespürt. -
mehr hatte sich an diesem abend nicht ereignet. er war nicht in
mich ge-
drungen, ich fühlte mich nicht unter druck gesetzt sondern völlig frei in mei-
nen
entscheidungen, wie und wann ich ihm begegnen sollte, und wir verab-
redeten ein nächstes
treffen wenige tage später, bei dem ich bereits imstan-
de war, ihn nach seiner befindlichkeit zu
fragen und ihm ein stück wärme
und mitfühlen zurück zu geben.

nach etlichen wochen mit wiederholten begegnungen, in denen wir uns
schlugen und be
sprachen, fühlte ich mich stark genug, den ersten schritt
zu einem anderen partner zu wagen.


perdunat führte mich - erstaunlich sachlich - in die gruppe ein (damals waren
es etwa zwei
dutzend männer) und gab mir somit die chance, mich aus seiner
obhut zu lösen und auszu
probieren, wieweit meine fähigkeiten, unabhängig
agieren zu können, bereits entwickelt waren.

die ersten schritte gestalteten sich mühsamer als ich gedacht hatte. aber mit
perdunats nach
hilfe, die ich immer noch mal in anspruch nehmen konnte,
gelang es mir in den letzten monaten,
erfolgreich und ohne grosse qualen
jedem neuen treffen standzuhalten. meine reaktions
schnelligkeit wuchs kon-
tinuierlich (übung macht den meister), so dass ich mich in den
begegnungen
inzwischen ganz auf den formalen ablauf des geschehens konzentrieren kann

ohne durch innere gefühlsbewegungen allzusehr abgelenkt zu werden.

                                                                                        *

seitdem ist nun fast ein jahr vergangen. etwa einmal wöchentlich gehe ich
zum schlagen.

es tut mir gut. ich bin ein freier mensch geworden. ich kann wieder erhobe-
nen hauptes  durch
die strassen laufen, weil ich mich nicht mehr unablässig
an berufliche oder sonstige dinge
gebunden fühle.

da ist so etwas wie stolz in mir entstanden. ich habe etwas, was nur wenige
haben.

das macht mich glücklich, offen und souverän. - ich.
 

 

mehr
 
 

© dpe
2000