ars-et-saliva



david p. eiser
zeitraffer  


diese verborgene sehnsucht nach rückkehr ins anorganische



die wege der menschen sind teils pflaster mit goldenen steinen, teils durch die
welt geschlagene schlamm- und geröllpisten. nicht jedem, der auf den goldpfad
geraten ist, bleibt dieser untergrund erhalten, und nur die wenigsten der bisher
auf der erde lebenden menschen dürften die chance gehabt haben, ihr ganzes
leben im glanz dieser pracht zu verbringen. die grosse masse hat ihr leben auf
den wilden, unbefestigten wegen verteidigen müssen, wenn nicht permanent,
so doch meistens, weil das schicksal es so wollte.


die aus heutiger sicht noch einigermassen überschaubare vergangenheits-span-
ne dürfte bei ca 2000 jahren liegen. in diesen überstandenen jahrhunderten hat
sich die menschheit viel einfallen lassen, um ein leben führen zu können, das
von sicherheit und wohlbefinden gekennzeichnet sein sollte.

fleiss, ideenvielfalt, intelligenz und auch notlagen haben dazu beigetragen, den
wohlstand einiger erheblich und anderer deutlich zu heben. aber trotzdem hat
es immer auch die grosse masse gegeben, die unterdrückt und nach möglich-
keit kurz gehalten wurde, sei es sächlich oder mental. oder beides.

nach der überwindung von schicksalsergebenheit und kritikloser gläubigkeit setz-
ten wissenschaftliche erkenntnisse und soziale eruptionen neue, vielversprechen-
de entwicklungen in gang, provozierten erwartungen und hoffnungen auf eine
schönere zukunft, hinaus aus der finsternis von mittelalter, adligem standesdün-
kel, religiösem hochmut und unangemessenem herrschertum.

und immer wieder tauchten stimmen auf, die für eine bessere welt votierten.
immer war das erreichte noch nicht gut genug. immer gab es millionen von men-
schen, die zu kurz gekommen waren und einzelne, die der meinung waren, es
müsse doch - notfalls auch mit gewalt - endlich mal zum frieden auf der immer
enger werdenden welt kommen, wo sich in den letzten zweihundert jahren die
bevölkerung explosionsartig vermehrt hatte und sich inzwischen der 8-milliarden-
marke nähert.

doch die rückschläge nahmen kein ende. falsche propheten und demagogen
gewannen immer wieder die oberhand und stürzten ihre völker ins unglück, hin-
terliessen breite spuren der verwüstung und der vernichtung und überliessen
den traumatisierten nachkommen neustart und wiederaufbau, alles als ausdruck
hoffnungsvoller erwartungen, hin zu sicherheit und wohlbefinden.

aber, was ist denn aus dem wütenden schrei „nie wieder krieg!“ geworden? die
zehn finger beider hände reichen bei weitem nicht aus, all die militärischen ein-
sätze nach dem zweiten weltkrieg aufzuzeigen. selbst länder, die arg unter den
folgen des letzten weltkrieges gelitten haben, waren und sind nicht in der lage,
sich mit aller kraft für frieden mit ihren nachbarn einzusetzen.

weltweit gab und gibt es immer noch und immer wieder genug menschen, die
sich als anstifter für kriegerische massnahmen präsentieren und andere, die sich,
gehirngewaschen, von diesen vereinnahmen und kommandieren lassen, wohl
wissend, dass es sich immer und ausnahmslos um ein spiel um leben und tod
handelt.


wenn denn wenigstens eine reale aussicht auf frieden und wohlergehen abseh-
bar wäre… wenn denn am horizont eine belohnung winken würde, die den ein-
satz vielleicht nicht gerade rechtfertigen, aber doch lohnen lassen würde… wenn,
ja wenn der zweck vielleicht das mittel heiligen würde… aber nein. allein in den
letzten 200 jahren haben militärische aktionen keine nennenswerten globalen
friedenserfolge nach sich gezogen. lokal allerdings durchaus, aber im laufe
der jahrzehnte erodierte manche friedenserrungenschaft und wurde abgelöst
von erneuter aufrüstung und rüstungserweiterung und vor allem bereitschaft
zum militärischen handeln.

und dann ist da noch die übervölkerung ins spiel gekommen und mit ihr die
rücksichtslose ausbeutung der ressourcen unseres planeten. bereits anfang
Mai 2023 hat Deutschland seinen jahresressourcenanteil verbraucht. wenn alle
länder so lebten wie wir, benötigten wir drei erden, um das, was wir verbrauchen,
nachwachsen zu lassen.

irgendwann werden die fragen auftauchen, wie wir uns alle satt kriegen sollten,
wie und wo wir alle wohnen könnten, wie und wo wir arbeit finden würden, um
unser leben zu finanzieren…

aber unverzüglich erscheinen immer wieder wissenschaftliche erkenntnisse, de-
ren anwendung den agrarbereich zu einem industriell geführten globalen unter-
nehmen umgestalten konnten, um ausgestattet mit entsprechenden technischen
hilfsmitteln und künstlichen düngergaben sowie entsprechend hochgezüchteten
pflanzen und tieren dem hunger in der welt paroli bieten zu können.

das ganze allerdings auf kosten natürlicher ressourcen, die zunächst unbedacht,
dann jedoch wider besseren wissens unwiederbringlich ausgeschöpft wurden
und unsere lebensgrundlagen auf diesem planeten zerstörend gefährdeten.


sehenden auges laufen wir seit mindestens 50 jahren in dieses verhängnis hinein.
immer wieder geblendet von erfindungen und entdeckungen, die die bewältigung
der zukünftigen probleme zu versprechen scheinen, aber letztlich nichts an der
verschwendung der ressourcen, der vermüllung der erde und des umgebenden
weltraums ändern und uns somit jeden tag einer globalen notlage näher bringen.

wir sehen dies alles, aber wir tun nicht, was wir tun sollten: verzichten auf gren-
zenloses wachstum. verzichten auf verletzung natürlicher gleichgewichte. verzich-
ten auf verbrauch von ressourcen, die zu unseren lebzeiten nicht nachwachsen
können.

die durch menschenhand aus dem gleichgewicht gebrachte umwelt bedeutet
schon heute für abertausende menschen direkte bedrohung der persönlichen
lebenswelt. vertreibung und flucht sind in der tagesordnung angekommen. die
persönliche zukunft ist für millionen menschen nicht mehr aktiv gestaltbar.
die zu erwartenden völkerwanderungen führen zu abwehrmassnahmen und
massiven integrationsstörungen, weil die flüchtlinge weder willkommen sind
noch unterkünfte und arbeitsangebote zur verfügung stehen.

anstatt alle vertriebenen und flüchtigen in den stand zu versetzen, sich selbst
ernähren zu können, werden von den noch funktionierenden reichen ländern
milliardenhilfsprogramme aufgelegt, die lediglich für ein zeltdach und mit glück
für eine warme mahlzeit täglich reichen. aber sie führen nicht dazu, dass
diese menschen eine chance für ein leben in eigenregie führen und sich ihre
zukunft nach eigenen vorstellungen gestalten können. sie werden degradiert
zu permanenten lethargisierten fremdhilfebeziehern.

all dieses wissen und ahnen wird uns nicht helfen, die probleme, die wir verur-
sacht haben, zu beseitigen, die folgen abzumildern und zukünftige unvernunft
zu vermeiden. es wird immer und überall menschen geben, die nicht bereit sind,
ihre gier zu zügeln, ihre herrschsucht zu begrenzen und sich der überforderung
des planeten entgegen zu stellen. und sie werden immer wieder genügend mit-
läufer finden, von denen sie sich bestärkt fühlen, einfach weiter zu machen,
wider besseren wissens.

wir haben eine katastrophale entwicklung ausgelöst und befinden uns bereits
in einer phase, deren fortschreiten nicht mehr gebremst geschweige denn ver-
hindert werden kann.

angesichts dieses weltumfassenden bedrohungsszenarios müsste die weltge-
meinschaft eigentlich zu regeln finden, um weitere schädigungen zu vermei-
den und die negative entwicklung abzumildern (abbrechen wird schon nicht
mehr möglich sein). aber es geschieht nicht. wir machen weiter wie gehabt
und riskieren tod und verderben anstatt gemeinsam um frieden und wohler-
gehen zu kämpfen.

was ist es, das uns hindert, rationalen erkenntnissen zu folgen? was steckt
hinter diesem wegschauen, dieser ignoranz, dieser verleugnung? macht uns
das schlechte gewissen denn nicht zu schaffen? womit rechtfertigen wir denn
unser nichts-tun gegenüber unseren nachkommen, die chancenlos diesem
ungemach ausgeliefert sind? schämen wir uns nicht, eine welt zu hinterlassen,
die unbrauchbar werden wird für abermillionen menschen, denen nichts wei-
ter übrig bleibt als die konsequenzen unserer ignoranz auszubaden?

welche macht ist das, die es vermag angesichts einer solchen bedrohung
intellektuelle erkenntnisse zu ignorieren und dazu führt, dass am ende die
selbstvernichtung droht, die rückkehr ins anorganische?

es ist wohl der eingebaute genetische schalter, von dem wir wissen, dass
er existiert und uns von anfang an zwingt, uns mit der erkenntnis zu arran-
gieren, dass unser leben begrenzt ist, auch wenn wir (noch) immer älter
werden.

wir weichen gefahren nicht aus, begeben uns täglich in den lebensgefähr-
lichen strassenverkehr, produzieren waffen, mit denen wir das leben auf
der erde mehrfach beseitigen könnten und ziehen ins feld, um gegen ver-
meintliche feinde zu kämpfen, trinken unmengen alkohol, ziehen uns niko-
tin, cannabidiol, kokain, heroin, fentanyl und andere gifte rein, um glücks-
hormone freizusetzen, erzeugen tödliche feinstaubbelastungszonen, ma-
chen die meere zu müllkippen und vernichten seine bewohner, von denen
wir leben sollten...

es ist ein wettbewerb ausgebrochen zwischen den völkern, die schon lange
„alles haben“ und denen, die auch so viel haben wollen, und zwar von allem.
und wer den finger hebt und ruft: „wehret den anfängen. nicht nehmen ist
weise sondern verzichten!“, der wird nicht gehört; denn die gier steuert die-
ses tun, nicht die ratio.

nachdem das leben entstanden ist, versucht es zwar, sich am leben zu er-
halten: leben zunächst als funktionsauftrag. aber leben heisst kämpfen um
den erhalt, täglich, unendlich wiederkehrend, letztendlich ermüdend, weil
das wissen um die endlichkeit des seins immer stärker ins bewusstsein
und der zeitpunkt für den abgang unbeeinflussbar näher rücken und die
aussicht auf innere ruhe und frieden immer attraktiver wird.

warum ziehen die menschen zu tausenden in einen krieg, obwohl sie wis-
sen, dass nur ein bruchteil von ihnen unversehrt zurückkommen wird und
ein grosser teil auch das nicht mehr? sie könnten überleben, wenn sie die
waffen einfach ignorierten. aber sie ziehen los und lassen sich zu krüppeln
schlagen und töten in einem gemetzel, das keine gnade kennt.

in diesen situationen bricht sich die sehnsucht nach rückkehr ins anorgani-
sche ihre bahn: hin zur ewigen ruhe, um durch zerstörung des organischen
materials den lebensauftrag zu erledigen.


nach Schopenhauer

"...ist… das Dasein anzusehen als eine Verirrung, von welcher zurück
kommen Erlösung ist...
Als Zweck unseres Daseins ist in der Tat nichts
anderes anzugeben als die Erkenntnis, daß wir besser nicht da wären..."


© dpe

6-5-2023





mehr