ars-et-saliva


david p. eiser

zeitraffer


an der supermarktkasse. Samstag morgen


Ewald Borgfeld, pensionierter studienrat für deutsch und latein, 73 jahre alt,
geborener links-, zwangsweise angelernter rechtshänder, übergewichtig,
kurzatmig, dreht sich noch mal eben zur seite, wo die zeitschriften stehen
und verbringt etliche sekunden mit dem studium von überschriften und titeln,
bis er seinen blick wieder auf seinen einkaufswagen und dann auf den ziem-
lich lang geratenen vordermann bzw. dessen breiten rücken richtet.

hinter ihm zieht sich die schlange mensch, einkaufswagen, mensch, einkaufs-
wagen, mensch… parallel zu den fünf weiteren an den anderen kassen bis
tief hinein in den laden, bis dahin, wo schon die tiefkühltruhen mit den 72 eis-
sorten stehen.

Edeltraud Pullgart, 70 jahre, schmächtig aber zäh, noch immer erste vorsit-
zende des örtlichen sprachschutzvereins "klarheit und reinheit e. v.", kurze
weisse haare, hat nur zwei teile in der hand. die hatte sie gestern vergessen.

Klaus Weber, anfang 50, gehbehindert, sozialhilfeempfänger, unrasiert, rotes
gesicht, offene jacke, oben weit offenes kariertes hemd, ein schmuddeliger
unterhemdrand ist sichtbar, ausgelatschte turnschuhe, schwarzgraue jeans;
auf dem band neben ihm liegen zwei flaschen ganz billiger korn, drei tüten
kartoffelchips und eine hartwurst.

Martina Ebermann, hausfrau, 38 jahre, tolle figur, bisschen hippelig, hat alles
aufs band gelegt, steht unter zeitdruck, wäre am liebsten schon wieder draus-
sen und sässe im auto auf der heimfahrt.

Aişe Ülçan, hausfrau, 28 jahre, sehr rundlich (schwanger), schwarzer hidschab,
zufriedenes lächeln im gesicht, schaut desinteressiert in ihren wagen, checkt
noch mal alles durch und scheint nichts vergessen zu haben.

Ulf Wegener, 52, spätschichtler in der molkerei, gut gelaunt wegen seines freien
wochenendes, überlegt noch mal, ob er für die abendliche feier auch alles im
wagen hat, schaut lächelnd um sich und lässt sich von der ersichtlichen stau-
verdriesslichkeit der meisten kunden nicht beeindrucken.

Anneliese Schrepke, witwe, 82 jahre, schwerhörig, ein wenig gebeugt, zusammen-
geschrumpft, aber mit flinken äuglein, hält sich am wagen fest, schaut mal nach
links, mal nach rechts, hat wohl alles, was sie wollte, aber ist trotzdem verunsi-
chert, weil so viele leute herumstehen und eine gewisse spannung in der luft liegt.

Enno  Röhrs, trockenbauer, 21 jahre, blonde locken, staubiger overall, verdreckte
sicherheitsschuhe, zollstock in der linken aussentasche, 2 sixpacks unter den
armen, hände in den taschen, mützenschirm nach hinten. steht und wartet.

Lia Han Pooh, 45 jahre alt, kassiererin in geschäftsuniform, sitzt auf ihrem dreh-
stuhl und zieht die ware über den scanner: schurr, piep. schurr, piep. schurr,
piep. usw….

frau Kallfrett, Lisa, auch schon ende sechzig, kleinwüchsig, aufgeregt, wird be-
dient. das heisst, sie wird gleich abkassiert, wenn sie denn endlich ihren kram
eingepackt hat. auf der abrollfläche hinter der kasse links neben ihr stauen sich
die sachen, weil sie es nicht gebacken kiegt, ihre geldbörse in der linken hand
und die schachtel mit den erdbeeren rechts so im einkaufswagen unterzubringen,
dass die guten früchte nicht von den nachfolgenden sachen zermatscht werden.
(anstatt sie als letztes in den wagen zu tun.)

frau Pooh schaut genervt auf und unterbricht für ein paar sekunden ihr "schurr.
piep". aber es hilft nichts, und fortan stapelt sie die geschurrten sachen aufein-
ander. frau Kallfrett schaut verdutzt auf diese neue situation und versucht offen-
bar, für ihre geldbörse einen sicheren platz zu finden, hebt den linken arm, senkt
ihn wieder frustriert. flüstert „…ich…“ und verstummt schon wieder, und es bleibt
ihr nichts anderes übrig, als alles einfach obenauf zu packen. immer mit der
rechten hand nach links auf die ware greifen, dann nach rechts im wagen
ablegen, stück für stück, nur die erdbeeren müssen frei bleiben, und die werden
dann noch zweimal aufgenommen und eins höher gelegt… Enno Röhrs verdreht
die augen und belastet das andere bein. ihm läuft die zeit davon. schliesslich
muss er wieder an seinen arbeitsplatz.

frau Seifert, Katrin, 34 jahre alt, mutter von vier kindern, die aber alle im kindergar-
ten bzw. in der schule sind, hat schon alles aufs laufband gelegt. sie mustert ihre
ausbeute, ist unruhig, hat das gefühl, etwas vergessen zu haben. auf einmal
scheint es ihr einzufallen. sie hibbelt herum, hin und hergezogen zwischen ver-
zicht und zurücklaufen und dabei das band mit ihren sachen zu blockieren.
verlegen schaut sie sich um und blickt dem freundlich dreinschauenden herrn
Wegener ins gesicht.
„jetzt habe ich doch die seife vergessen,“ sagt sie entschuldigend.
herr Wegener grinst und fügt lauthals hinzu: „dass die seife aber auch immer alle
ist. das muss an der obsenitenz liegen.“
frau Seifert runzelt die stirn. ihr gesicht ist ein einziges fragezeichen.
„obsoleszenz!“ ruft herr Borgfeld laut und deutlich und schaut verärgert an seinem
vordermann vorbei. „ferkel!“ zetert frau Pullgart dazwischen. „sowas in aller öffent-
lichkeit! sind sie man froh, dass es hier keine sittenpolizei gibt!“
„polizei?“ quäkt frau Schrepke und schaut sich verschreckt um. dabei knufft sie
den trockenbauer zufällig und unglücklich an, so dass ihm sein sixpack
aus der
rechten armbeuge rutscht und zu boden zu fallen droht. das pack hat be
reits
hüfthöhe erreicht, als er versucht, es aufzufangen. er geht in die kniee und

rempelt mit seinem hintern den wagen von frau Ülçan an. der nun stösst gegen
ihren bauch mit der kostbaren fracht darin. sie schlägt die hände über dem kopf
zusammen und fängt an zu schreien, es klingt wie „inschallah“, derweil das sixpack
bereits zur landung ansetzt.

aufgrund des unüberhörbaren wortwechsels und der plötzlichen bewegungsunru-
he sind die kunden der kasse-3-schlange aufmerksam geworden und wenden sich
interessiert der szenerie zu. eine jüngere frau, Sonja Tipken, 22 jahre, studentin im
wochenendurlaub, stöpsel in den ohren, schmachtfon in der linken hand, wendet

sich ab von dem virtuellen geschehen auf ihrem bildschirm, dreht das gerät in
richtung nachbarschlange und drückt den aufnahmeknopf.

in dem augenblick, da die flaschen klirrend und gleichzeitig mit zischenden geräu-
schen zerspringen, ist es dem trockenbauer gelungen, das zweite pack in den griff
zu kriegen, den arm hoch zu reissen und lauthals „scheisse!“ zu schreien.
die umstehenden damen und herren versuchen, dem umherspritzenden bier und
den scherben zu entkommen und trampeln unkoordiniert gegen- und umeinander.
in der nachbarschlange fühlen sich einige im wahrsten sinne des wortes getroffen
und beteiligen sich an dem kundentanz nebenan. es wird lebhaft. die videoaufnah-
me läuft weiter. die kassiererin nr. 3 erhebt sich kurz und beugt sich vor, um sich
einen überblick zu verschaffen, schüttelt dann aber nur den kopf und setzt sich
wieder. schurr. piep. schurr. piep…

frau Pooh greift zum mikrofon und lässt einen aufruf erschallen: „Erika, bitte an
kasse-2, hier gibt es etwas aufzuwischen. Erika, bitte an kasse-2!“

frau Schrepke und frau Seifert, von den explodierenden flaschen aufgeschreckt,
rufen „hilfe!“ und „polizei!“ und „igitt!“. man zieht sich abwechselnd und kopfschüt-
telnd die besprenkelten hosenbeine hoch. „sauerei!“ tönt es aus unberufenem
munde, derweil sich der trockenbauer nach hinten ladenwärts aus dem staube
macht, sein zweites sixpack unauffällig hinter den toastbroten absetzt und dann
um vier regale herum an kasse 5 ohne bezahlen zu müssen und ohne sich umzu-
drehen grusslos dem ausgang zustrebt.

Erika erscheint mit feudel, kehrschaufel, handeule und putzwagen am tatort. „darf
ich mal bitte?“ fragt sie in die noch immer aufgeregte kundenrunde hinein.

frau Kallfrett steht am ende der warenausgabe hinter ihrem wagen und starrt mit
offenem mund, geldbörse noch immer in der linken hand, verständnislos auf das
geschehen neben der kasse. irgendwie hat sie nicht mitbekommen, was passiert
ist, und vor allem, warum. schliesslich dreht sie ab und begibt sich zum bäcker
am ausgang des marktes.

Erika feudelt, nachdem sie sorgfältig die aufgefundenen scherben aufs blech ge-
kehrt und die schaufel unten an der thekenseite abgestellt hat.

frau Ülçans ware ist nun dran. sie schiebt ihren leeren wagen durch die bierschaum-
brühe und tappt hinterher. räder und schuhsohlen hinterlassen deutliche spuren
auf dem soeben von Erika abgewischten boden. diese hebt kurz den verfinsterten
blick und hält den feudelstock still, um frau Ülçan nicht ins unglück zu treiben;
denn selbige fühlt sich gebannt und starrt zurück, wobei sie die kehrschaufel
übersieht und mit dem wagen dagegenrollt. Erika glüht sichtlich auf. es schep-
pert, frau Ülçan zuckt zusammen, hält sich den bauch und schreit. es klingt
wieder wie „insch`allaaah!“ und als ob eine frühgeburt drohte.

„oooch, guckt mal, da ist ja noch eine flasche. heil geblieben!“ ruft frau Ebermann
begeistert und fängt an, sich nach ihr zu bücken, kommt damit aber zu spät; denn
der kunde aus der nachbarschlange, ein netter junger mann, war pitsch-patsch,
zwei schritte durch den braunen bierschaum, schneller und legt nun lächelnd die
flasche zu herrn Webers schnaps auf das band. herr Weber ist verdattert, schaut
auf die flasche, dann zu dem netten jungen mann, dann zu frau Ebermann, dann
wieder auf die flasche und schnarrt schliesslich: „das ist nicht meine. was soll ich
denn damit?“
„oh“, sagt der junge mann, „entschuldigen sie. ich dachte, sie wäre von ihnen,“
und mit verunsichertem blick in die runde: „von wem ist das bier denn dann?“

alle gaffen ihn an, ohne zunächst ein wort zu sagen. er fühlt sich schon fast als
angeklagter und möchte diesen eindruck gerne loswerden. da kommt ihm frau
Ebermann zu hilfe, die hinter dem trockenbauer gestanden hat und erklärt, dass
der bierkunde vor ihr zwei sixpacks unterm arm gehabt und eins fallen gelassen
habe. und das hier seien die reste davon. dabei weist sie mit einer hand auf den
halb aufgewischten boden. Erika nimmt dies stoisch zur kenntnis und setzt ihre
reinigungsbemühungen fort.

„aha. und wo ist der jetzt?“ fragt der junge mann noch, bevor er sich wieder in
seine schlange einreiht. wortloses, synchrones sich-umdrehen macht sich breit,
schulterzucken, verschämtes grinsen, klammheimliches verständnis werden sicht-
und spürbar. herr Wegener ergreift die flasche und stellt sie demonstrativ in das
regal mit den kleinen süssigkeiten, direkt vor dem band, kreuzt die arme ober-
halb seines bauches und brummt sich etwas unverständliches in den bart. damit
wäre diese angelegenheit offenbar geklärt.

Sonja Tipken, die junge frau aus der kasse-3-schlange drückt die stop-taste auf
ihrem schmachtfon und wendet sich der kassiererin zu, schiebt aber schnell
noch ein paarmal mit dem daumen über das display und kontrolliert, ob schon
rückmeldungen eingegangen sind.

Lars Herkens, 35 jahre, ledig, ladendetektiv kehrt von der toilette zurück an sei-
nen arbeitsplatz und greift nach seiner banane, wirft dabei einen blick auf die
kassenmonitore und bekommt mit, wie Erika ihren einsatz bewältigt. nun, denkt
er, da hat es wohl eine kleine havarie gegeben. kommt ja immer mal vor, beisst
einen happs von seiner südfrucht ab und macht es sich in seinem drehsessel
bequem.

Erika geht nun endlich robust gegen den schaumigen glitsch vor und verscheucht
durch kräftige ausschläge ihres feudels die gaffer aus der gefahrenzone, sam-
melt die aus der schaufel gefallenen glasstücke wieder ein, packt alles auf ihren
putzwagen und zieht grusslos und schnaufend davon. die kasse-2-schlange
reorganisiert sich ohne weitere auffälligkeiten.

frau Melkowicz, Mira, anfang 50, franchise-nehmerin, schaut vom ersten stock
aus ihrem büro auf den gut gefüllten, geräumigen parkplatz, wirft einen blick
auf die halbleeren unterstände für die einkaufswagen, überschlägt schnell die
zahl der abgestellten fahrzeuge und lächelt zufrieden in sich hinein. das
wochenende fängt ja ganz gut an. sie schliesst kurz die augen und lässt die kas-
se schon mal in gedanken klingeln.
morgen ist Sonntag…




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