ars et
saliva
david p. eiser
zeitraffer
tage des
herrn M.
ich
habe die notwendigkeit erkannt, mein leben
einer gewissen ordnung zu unter-
werfen, um immer wiederkehrenden schwierigkeiten und zeitnöten aus dem
wege
zu gehen. diese ordnung ist keine starre, unabänderliche, sondern sie
passt sich
meinen einzelnen lebensabschnitten mit entsprechenden wandlungen an.
meine
arbeitszeit verteilt sich auf die ersten
fünf wochentage. von freitagnachmit-
tag bis sonntagabend habe ich frei. -
ich habe versucht, von meiner firma die er-
laubnis zu bekommen, auch an solchen feiertagen arbeiten zu dürfen, die
den
normalen rhythmus meiner arbeitswoche unterbrechen. man hat mir mit
bedau-
erndem
achselzucken erklärt, dass dies leider nicht möglich sei.
es
ist unangenehm für mich; denn diese unterbrechungen,
selbst wenn sie nur
ein paarmal im jahr auftreten, werfen mich immer wieder aus dem gleis
der routi-
ne. ich hänge dann zwischen zwei normalen arbeitstagen buchstäblich in
der luft;
denn ich weiß von natur aus mit solchen tagen nichts anzufangen.
*
morgens
um fünf minuten nach sechs klingelt mein wecker. - ich habe ihn in
einen
schrank gestellt, um sein ticken zu dämpfen; nachts möchte ich es immer
so ruhig
haben wie nur irgend möglich.
- am kopfende meines bettes steht ein elektrischer
kochtopf, ein erbstück meiner mutter, den ich abends schon
mit wasser fülle. ich
brauche ihn dann morgens nur einzuschalten. wenn er anfängt zu surren,
nach
etwa sieben minuten, in denen ich langsam erwacht bin, stehe ich auf
und bereite
den kaffeeaufguss vor; dann kocht das wasser gerade.
etwa
zehn bis elf minuten benötige ich, um mich anzuziehen und
fertigzumachen.
dann fange ich an zu frühstücken, und anschliessend, bevor ich das haus
verlasse,
rasiere ich mich. ich hebe diese tätigkeit solange auf, weil sich meine
haut am bes-
ten rasiert, wenn etwa eine halbe stunde zwischen waschen
und rasieren vergangen
ist; ausserdem rasiere ich mich in dem sessel, in dem ich mir auch die
schuhe an-
ziehe,
die griffbereit daneben stehen. so vermeide ich einige unnötige
bewegungen.
es ist mein prinzip - schon von berufswegen (ich bin programmierer) -
prozessab-
läufe zu verfolgen und zu analysieren, stets mit dem ziel vor augen,
unnötiges zu
vermeiden und den kürzest möglichen weg zu finden.
*
um
fünf vor sieben verlasse ich mein zimmer, gehe jeden morgen denselben
weg
zur firma, mittags zurück, nachmittags wieder hin und abends wieder
zurück.
mein arbeitstag läuft von viertel nach sieben bis zwölf und von halb
drei bis um halb
sieben, manchmal auch bis sieben uhr. - das mittagessen nehme ich mit
einigen
herren der firma in der kantine ein. danach begebe ich mich nach hause,
erledige
montags und mittwochs notwendige einkäufe und halte die übrige zeit bis
viertel
nach zwei meine mittagsruhe, ausgestreckt in zwei sesseln, von denen
sich der
eine sehr bequem flach einstellen lässt. -
wenn
ich abends zwischen halb sieben und sieben
nach hause komme, bin ich so
müde, dass ich nach dem abendessen sofort zu bett gehe. dieser rhythmus
wird
erst am freitagmittag abgelöst durch die wochenendtage.
nach
dem mittagessen packe ich meine aktentasche
und begebe mich mit der
13:29 uhr tram zum hauptbahnhof, von wo mich um 13:43 uhr ein günstiger
eilzug
mit nach hause nimmt. (meine familie wohnt in einer etwas kleineren
stadt, unge-
fähr eine eilzugstunde entfernt). ich betrete den bahnsteig über
die westliche treppe,
die dem einfahrenden zug entgegenführt; denn ich steige immer in den
letzten
wagen
ein. der grund ist darin zu sehen, dass die bahnsteige meines
heimatortes
nur einen zugang haben, der nicht in der mitte der bahnsteige mündet
sondern
an deren ende, sodass der letzte wagen des zuges immer ganz in der
nähe der
ausgangstreppen zum halten kommt. das hat für mich den vorteil, dass
ich schnell
an die sperre gelange und noch ohne grössere verzögerungen den bus zu
unserer
wohngegend bekomme.
*
die
wochenenden habe ich mir etwas unregelmäßiger eingeteilt. freitags
nachmit-
tags trinke ich mit meiner familie ausgiebig kaffee. dabei lasse ich
mir die neue-
sten nachrichten und ereignisse erzählen. später beginne ich, die
aufgelaufenen post
sachen, zeitungen und zeitschriften durchzusehen, was ich gewöhnlich am
samstag-
nachmittag fortsetze.
samstags
morgens fahre ich regelmäßig in die stadt, um für das wochenende und
die kommende woche einzukaufen und um vielleicht einen oberflächlichen
schau-
fensterbummel zu machen. manchmal begleiten mich meine frau oder meine
toch-
ter dabei. den rest des vormittags widme ich der wochenendausgabe
unserer tages-
zeitung, wobei ich mich flüchtig mit der ersten und letzten seite des
hauptteiles be-
gnüge, dafür aber in aller ausführlichkeit den kulturellen teil
verfolge; denn ich stehe
auf dem standpunkt, dass es sinnlos ist, sich tagtäglich mit einer
unzahl völlig un-
wichtiger einzelnachrichten abzugeben, die man ja doch nicht behalten
kann.
der
samstagabend ist beliebigen veranstaltungen vorbehalten, denen jedoch
allen
gemein ist, dass sie ausserhalb unserer wohnung stattfinden und
gewöhnlich vor
mitternacht beendet sind. - sonntags früh gehen wir in unsere
kirchen. meine frau
und meine tochter besuchen stets den gottesdienst in unserer gemeinde,
während
ich mich anhand eines wöchentlich erscheinenden kirchenblättchens erst
informiere,
wo ein pastor predigt, den ich gerne höre.
nach
möglichkeit vermeide ich es, am gottesdienst
in unserer gemeinde teilzuneh-
men, weil ich mich durch unsere bekannten, ja selbst durch meine eigene
familie,
gestört und abgelenkt fühle. meine andacht ist am konzentriertesten in
einer mir
völlig fremden gemeinde. - nach der kirche treffen wir
uns zu einem spaziergang
im ehemaligen ausstellungsgelände, das vor einigen jahren zu einem park
umge-
staltet worden ist. anschliessend nehmen wir im parkrestaurant unser
mittagessen
ein.
nach
einer ausgiebigen mittagsruhe lese ich gewöhnlich
noch ein paar stunden in
meinen fachbüchern und zeitschriften und bereite dann allmählich meine
rückfahrt
vor. zwischendurch
bleibt immer noch zeit zu einem gespräch mit der familie.
nach
dem abendessen verlasse ich um fünf vor halb acht das haus, um den
19:31
uhr bus zum bahnhof zu erreichen. es ist mein bestreben, stets so
pünktlich wie
nur eben möglich
zu sein. ich erspare mir dadurch ärger und unliebsame überra-
schungen. - die busfahrt dauert etwa zehn minuten.
bis zur abfahrt des zuges
um 19:57 uhr verbleiben mir dann noch sechzehn minuten, in denen es mir
mit
sicherheit gelingt, eine rückfahrkarte zu kaufen. sonntags abends
herrscht ein
starker reiseverkehr von und nach unserer stadt, und es ist schwierig,
eine fahr-
karte zu bekommen, wenn man nicht genügend zeit dazu hat.
*
bei
normalen verkehrs- und wetterverhältnissen
läuft der eilzug um 19:49 uhr ein.
auf meinem heimatbahnhof pflege ich vorne in den ersten wagen
einzusteigen,
deshalb, weil der zug
im zielbahnhof auf dem ostbahnsteig einläuft und ich den
westausgang des bahnhofes benutze. ein weiterer grund liegt darin, dass
meis-
tens die mittleren wagen der züge stärker besetzt werden als die
hinteren und
vorderen. diese platzverteilung verschiebt sich natürlich in den
fällen, wenn der
lokomotivführer aus irgendeinem grund nicht weit genug vorzieht, sodass
sich
die normalerweise in der mitte einsteigenden auf die ersten wagen
verteilen
und
diese unter umständen völlig besetzen.
derartige
fälle von unregelmäßigkeiten irritieren mich sehr stark. ich bin ein
mensch, der der gewohnheit verhaftet ist; es bereitet mir unbehagen,
wenn
plötzlich abweichungen auftreten,
mit denen man zwar rechnen kann, die aber
aus ganz unerfindlichen oder fadenscheinigen gründen eintreten; die
mich dazu
zwingen, entschlüsse zu fassen, deren auswirkungen mir mehr oder
weniger
unbekannt sind.
ausserdem
berauben mich derartige, nicht vorgesehene änderungen meiner
sicherheit, stellen mich in sekundenbruchteilen vor eine fülle
ungelöster, gleich-
zeitig zu lösender probleme,
wodurch meine aufmerksamkeit aufgesplittert,
meine sonst mit traumwandlerischer sicherheit durchgeführte
platzsuche stark
beeinträchtigt wird und ich mich mit einem platz begnügen muss, der mir
viel-
leicht für
den größten teil der fahrt unangenehme beschränkungen auferlegt;
denn ich erfreue mich einer übernormalen körperlänge, und ich spüre
selbst,
wie ich den vor und neben mir sitzenden fahrgästen unangenehm auffalle
durch
einen unbezähmbaren zwang zu ausgleichenden bewegungen, sobald ich
durch
ungünstige umstände dazu veranlasst
werde, eine eng auf mich selbst bezoge-
ne körperhaltung anzunehmen, obgleich ich von natur ein durchaus
ruhiger
mensch bin.
bei
der suche nach einem platz folge ich deshalb grundsätzlich dem
bedürfnis
nach größtmöglicher bewegungsfreiheit. dies erklärt auch, warum ich
stets
den platz auf der sitzbank
wähle, der am mittelgang des wagens liegt. denn
die meisten menschen bevorzugen die fensterplätze, und
ich habe die erfah-
rung gemacht, dass sich die mitreisenden keineswegs abschrecken lassen,
wenn der gegenüberliegende
fensterplatz besetzt ist, selbst von einem men-
schen mit derartig langen beinen wie ich
sie habe, sodass sie gezwungen
sind, ihre eigenen beine ohne bewegungsraum eng bei sich zu behalten,
was
für mich einer folter gleichkäme. -
bei
der auswahl eines platzes lasse ich mich aber auch von einer erfahrung
leiten, die mir gezeigt hat, dass die plätze in fahrtrichtung
bevorzugt werden.
ich selbst verhalte mich gegen
die art der fahrtrichtung völlig indifferent. wenn
ich mich stets bemühe, einen platz in der richtung des fahrenden zuges
zu
erhalten, so liegt das einzig daran, dass der gegenüberliegende platz
von
vorübergehenden,
noch suchenden fahrgästen mit relativ hoher wahrschein-
lichkeit gemieden wird (eben weil er mit dem rücken
zur fahrtrichtung zeigt)
und ich dadurch die möglichkeit behalte, meine beine ungehindert auszu
strecken.
-
*
um
viertel vor neun läuft der eilzug im hauptbahnhof ein. wenn ich ohne
ver-
zögerung über den etwa 400 meter langen bahnsteig und durch die sperre
gelange, erreiche ich noch die 20:50
uhr tram. -
kurz
nach neun bin ich dann in meinem zimmer. nach dem auspacken und
einigen vorbereitungen für den nächsten tag gehe ich gewöhnlich um halb
zehn zu bett. montags morgens um
fünf nach sechs beginnt eine neue arbeits-
woche. ich werde wieder den elektrotopf einschalten, den kaffeeaufguss
vorbe-
reiten, mich fertigmachen, zur firma gehen, vormittags, nachmittags;
freitag-
nachmittag wieder
nach hause fahren, bis sonntagabend. fast wünschte ich,
es könnte so bleiben, ohne größere veränderungen,
die wieder umstellungen
in der routinemäßigen ordnung meines lebens bedeuten würden. -
gestern,
beim mittagessen erfuhr ich von einem
der herren, dass unsere ge-
samte verwaltung noch in diesem jahr verlegt werden soll, in eine
größere
stadt an der küste. das bedeutet: völlig neue, veränderte verhältnisse.
ich
werde wieder mit meiner familie zusammenwohnen können. -
es
gibt keine endliche, endgültige ordnung. jede ordnung ist nur ein weg
zur
ordnung. ich habe diesen weg eingeschlagen. ich bewege mich. --
© dpe
1995