ars-et-saliva


david p. eiser

zeitraffer


begegnung im terminal                            

nach all den jahren

 

eine geschichte von freundschaft, liebe und tod

 


Du, der ich´s nicht sage,
dass ich bei Nacht
weinend liege,
deren Wesen mich müde macht
wie eine Wiege.

Du, die mir nicht sagt,
wenn sie wacht meinetwillen.
Wie, wenn wir diese Pracht

ohne zu stillen
in uns ertrügen?

Sieh dir die Liebenden an,
wenn erst das Bekennen begann,
wie bald sie lügen.

 

Du machst mich allein. Dich einzig kann ich vertauschen.
Eine Weile bist du`s, dann wieder ist es das Rauschen,
oder es ist ein Duft ohne Rest.

Ach, in den Armen hab` ich sie alle verloren,
du nur, du wirst immer wieder geboren:
Weil ich niemals dich anhielt, halt ich dich fest.


Rainer Maria
Rilke (aus den aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge)

 

diese geschichte beginnt in den frühen 60er jahren des 20. jahrhunderts,
in einer epoche, in der moralvorstellungen aus kaisers zeiten noch immer
die köpfe vieler, viel zu vieler, menschen beherrschten; in der dünkelhaftig-
keit und religiöse indoktrination unser verhalten bestimmten und unser tun
und lassen leiteten.

eine geschichte, die immer noch nicht zu ende ist, zusammengefügt aus tage-
buchnotizen, erzählungen und reflektionen; denn erst mit der dritten und
vierten generation werden die protagonisten dieses buches das zeitliche ge-
segnet haben.

mögen sich die kinder, enkel und urenkel ihrer freiheit bewusst und dankbar
sein für das „glück ihrer späten geburt“.

 

die akteure in diesem buch sind unter anderen:

Suse und Chris R.

sohn und schwiegertochter Jan und Anna-Lena
Chris` freunde Ulla und Horst

Suses freunde Liane und Werner

Marilu und Klaus S.

Marilus geschwister Rita und Wolfgang
Marilus freunde Ella und Reinhard

Ritas verlobter Karel


Chris

nach über 45 jahren unerwartetes kurzes wiedersehen mit alter freundin, am flughafen,
auf einer reise an den strand. – Suse im heim. Chris allein im urlaub plötzlich wieder
voller erinnerungen an damals.

um fünf uhr morgens aufzustehen, ist eine herausforderung. der tag beginnt gewalt-
sam, mit dem piepen des weckers, nicht mit dem allmählichen wachwerden bei lang-
sam zunehmender helligkeit; beim blick aus dem fenster mit der vorsichtigen frage,
wie denn das wetter wohl so ist. und dann kommen aufstehen, die gardine zurück-
ziehen, in den garten schauen: nass? trocken? wieviel wolken? wie tief?... nichts zu
machen, alles stockfinster.

zeit genug zum rasieren, frühstücken, aufräumen; fenster- und türenkontrolle; koffer
ins auto packen, jacke nicht vergessen; papiere, tickets, geld, kreditkarten, sonnen-
brille... überspannungs-schutzmassnahmen geklärt? standbyverbraucher ausgeschal-
tet (ausgenommen lichtautomaten), wasserhähne dicht? und dann goodby for a while,
ab in die sonne, ans meer, in den süden.

es ist noch nicht hell um fünf uhr morgens, ende September, also vorsicht auf dem
weg zur autobahn. das wild schläft noch nicht.

und in gedanken noch mal alles durchlaufen... alles griffbereit? nichts wesentliches
vergessen? urlaubsadresse im heim hinterlassen? ladegerät fürs telefon dabei?
alles unwesentliche kann ich nachkaufen. kein problem.

und immer: augen auf, hinsehen, jetzt bloss keinen wildunfall bauen. hält ja nur auf.
die kalkulierte fahrzeit gibt keine grossen reserven her, und wer weiss, ob es nicht
doch schon irgendwo einen stau gibt, eine baustelle, einen unfall. – es gibt kaum
etwas schlimmeres als unausgeschlafen mitten in der nacht nach zeit irgendwo hin-

zufahren, um ein flugzeug zu erreichen, das einen in den urlaub fliegen soll.

und dann noch zwei stunden vor abflug am terminal sein. beine in den bauch stehen.
den rest der zeit vor langeweile auf die abflugtabelle starren oder zeitung lesen..
.

*

gestern nachmittag war ich noch bei Suse, habe versucht, ihr zu erklären, dass ich
zwei wochen auf die insel will. sie schaute mich erstaunt an, als ob sie fragen wollte,
warum ich sie nicht mitnehme. ich weiss nicht, ob sie sich wirklich noch daran er-
innert. als ich sie zum abschied küssen wollte, zuckte sie für einen augenblick zurück,
liess sich dann jedoch meine umarmung gefallen.

es tut weh, einen menschen, den man so geliebt hat, verlieren zu müssen an eine
erkrankung, die ihm das gedächtnis raubt und ihn unfähig macht, die simplen dinge
des alltags ohne fremde hilfe zu erledigen.

ich nehme mir die freiheit, sie für zwei wochen zu verlassen; denn ich habe das
gefühl, diese auszeit zu benötigen. es wird nur ein räumlicher abstand sein; denn
ich fliege dorthin, wo wir jahrzehnte zusammen urlaub gemacht haben, an die strände
unserer sehnsucht. wo wir wochenlang tagtäglich zusammen waren, nur wir beide.
alles andere hatten wir zu hause gelassen; arbeit, zeitpläne, begegnungen mit ande-
ren menschen, verpflichtungen, zukunftsgedanken, alles, was den routinealltag
betraf und kaum zeit liess für nach- und vordenken. freizeit geniessen, ohne das
morgen bereits im sinn zu haben...

*

natürlich gibt es einen kleinen stau vor dem dreieck zum flughafen und anschliessend
eine umleitung. wer hätte das gedacht. aber endlich habe ich das ende „meiner“
schlange vor dem check-in-schalter erreicht. jeweils zwei, manchmal auch drei leute
stehen nebeneinander. erst kurz vor dem schalter verjüngt sich die schlange, und es
sind zwischen zwanzig bis dreissig zweier- und dreierreihen vor mir. aber keiner
soll mir vorwerfen, ich sei nicht pünktlich am checkpoint gewesen. natürlich machen
sie auch bei dem grössten andrang nicht mehrere schalter auf; denn dann würde
der stau vor der sicherheitskontrolle zu gross. die zeit dehnt sich, und es dauert
zähe fünf minuten, bis endlich wieder zwei, drei schritte vorwärts möglich sind.

dazu das ununterbrochene gemurmel dieser tausend leute in den endlosen schlangen
rechts und links neben mir, das knallen von absätzen auf den fliesen, das rollgeräusch
der zahllosen koffer, bis sie endlich auf der waage und dem transportband verschwin-
den. es nervt. wieso kann man nicht einfach einsteigen wie bei der eisenbahn, wie
beim bus, in der U-bahn? –

die müdigkeit packt mich wieder. ich schliesse die augen und konzentriere mich aufs
hören, um den moment nicht zu verpassen,
wenn die vor mir stehenden weiterrücken.
hinter mir raschelt es. unruhe nicht nur voraus sondern auch am ende der schlange,
die wohl gerade wieder zuwachs kriegt.

und dann plötzlich diese stimme. eine frau. das, was sie sagt, ist bereits verweht,
überhört in dem sturm der erinnerungen, der in meinem hirn losbricht. nur der klang
schwebt nach und hält sich, während sie weiterspricht. ein lachen dazwischen, ein
mann antwortet, und wieder diese stimme... ich finde die anknüpfung nicht. ich will
mehr hören. aber jetzt redet er. dann ein paar sekunden schweigen. ich halte es
nicht mehr aus und drehe mich langsam um. da sehe ich in der nachbarschlange
ein älteres paar an seinen koffern stehen. sie setzt gerade wieder an, legt ihre hand
auf seinen arm, lacht und sagt: “stell dir vor, als wir...“, bricht ab, sieht mich an, mit
grossen, dunklen augen – diese augen, wo war das, wann?? – und wie in zeitlupe,
ihre lippen öffnen sich, zögerlich, leise tastet sich ein wort zu mir herüber: „Chris??“

ich bin fassungslos und gleichzeitig peinlich berührt; denn ich habe sie nicht erkannt,
sie mich dagegen sofort. und während ich zaghaft anfange zu lächeln, verändert
sich ihr gesicht. es bilden sich kleine lachfältchen um die mundwinkel, sie neigt den
kopf etwas nach rechts – eine ganz typische bewegung für sie – und dann noch
mal ihre stimme: „das gibt’s doch nicht! woher kommst du denn plötzlich?“ sie kommt
mir einen schritt entgegen, zwei, ich ihr einen, und schon liegen wir uns in den armen.
mehr als ein leises „Marilu“ kriege ich nicht zustande.

*

zwei wochen in ruhe am strand liegen, laufen, schwimmen, auf der düne sitzen und
aufs meer schauen... ich habe wieder angefangen zu schreiben, habe mir eine
grosse tastatur gekauft, weil es mit dem tablet nicht anders geht, und sitze nun jeden
nachmittag und abend auf dem balkon, geniesse die späte wärme, die kräftigen
farben und den weiten blick aus dem 8. stock aufs meer hinaus und notiere, was
mir im laufe des tages durch den kopf gegangen ist. ausser den gedanken an Marilu
gibt es allerdings nicht viel notierenswertes.

es ist beinahe 50 jahre her, seit wir uns zuletzt gesehen haben, und ich habe sie nicht
wiedererkannt. sie ist noch immer eine aussergewöhnlich attraktive frau, aber sie ist
nicht mehr die 22-jährige, die für mich damals die welt war, die mich ein stück weit
herausgeholt hat aus meinem schneckenhaus und gezeigt hat, was unvoreingenom-
menheit ist und freiheit im denken und fühlen. Marilu...

sie hatte mich ihrem mann vorgestellt, der sich unser wiedersehen mit neugierigen
augen und - wie mir schien - skeptischem interesse angesehen hatte. sie wollten
ebenfalls auf eine insel, aber im Mittelmeer, und ihre schlange bewegte sich recht
flott nach vorne, so dass ich nicht mithalten konnte. wir wünschten uns gegenseitig
einen schönen urlaub und hielten uns wieder an den koffern fest.

während ich versuchte, meine aufgewühlten gedanken zu ordnen und daraus eine
vorhersage für die zukunft zu entwickeln, ging das geschiebe in richtung check-in
automatisch weiter. plötzlich berührte mich etwas am arm, und eine, ihre, stimme
sagte: „du könntest dich ja mal melden, nach dem urlaub...“ wie damals, schoss es
mir durch den kopf, wenn sie mich aufforderte, mich mal wieder sehen zu lassen.
genau wie damals. sie reichte mir einen kleinen zettel, auf dem sie eine telefonnum-
mer notiert hatte, lachte, winkte mir zu und verschwand in der menge.

sie waren wohl längst auf dem weg zu ihrem gate, ich hatte noch mindestens zwei
dutzend reisende vor mir und versank immer wieder mit geschlossenen augen in
eine art halbschlaf, der mich alles andere um mich herum vergessen liess. nur den
kleinen zettel hielt ich krampfhaft in der hand und versprach mir, ihn niemals ver-
lieren zu wollen.

 

Marilu

erfreut, den alten freund wiedergesehen zu haben. ablenkung im urlaub mit ehemann.
gelegentliche erinnerungsbruchstücke, die gerade in die aktuelle situation zu passen
scheinen.

ich bin überrascht. das urplötzliche wiedersehen mit Chris bewegt etwas in mir. es
kam so unerwartet, aus tiefster versenkung empor. sein blick, seine gestalt, seine
haltung, seine bewegungen... wie ist es möglich, nach so langer zeit den faden
wieder aufnehmen zu können, ohne übergang, als seien wir erst gestern auseinan-
der gegangen?

er sieht ja gut aus, richtig erwachsen geworden. das jungenhafte ist aus seinem
gesicht verschwunden, aber die haare trägt er noch wie früher, und sie sind grau
geworden. die lachfalten um die augen sind auch noch da, und die art, wie er
seine lippen bewegt und den mund gelgentlich etwas schief stellt... alles noch wie
früher. in diesen paar sekunden der hinwendung zu mir habe ich ihn wiedererkannt.
die paar bewegungsmuster, seine gestalt und wie er mich angeschaut hat, haben
mir genügt, um mich an ihn zu erinnern. nach fast einem halben jahrhundert. es ist
kaum zu glauben.

andererseits, wie ist es möglich, sich nach so langer zeit an die stimme eines
menschen zu erinnern, mit der stimme eines menschen eine uralte erinnerung

zu verknüpfen, ohne erst das bild des anderen vor augen zu haben? und wie er
mich in den arm genommen hat, voller wärme und geschmeidigkeit, als hätten
wir nur auf diesen moment gewartet, um endlich das zu tun, wofür mir - uns? -
damals der mut gefehlt hat...

*

Klaus schaute mich von der seite an. es schien etwas belustigendes in seinem
blick zu liegen. ich war mir nicht sicher. „Chris?“, fragte er gedehnt. „den namen
hab` ich doch bis heute noch nicht gehört.“ ich schob erstmal den koffer ein
stück weiter nach vorne, um zeit zu gewinnen, hakte dann meinen arm bei ihm
unter und flüsterte: “du kannst eben nicht alle namen von damals kennen, weil
du ja woanders studiert hast. Chris war einer aus unserem semester. einer von
über sechshundert.“

im selben augenblick wurde mir klar, dass ich damit Chris zum winzigen teil
einer grossen anonymen masse degradiert hatte, und das war nicht die wahr-
heit, nicht die ganze wahrheit.

er war es, der mich etliche seiten meiner tagebücher füllen liess, auf die nur
sehr wenige der sechshundert zugang gefunden haben und auch diese nur
mit wenigen sätzen. bis Klaus auftauchte...

was auch immer sich zwischen Chris und mir ereignet hatte, sollte so schnell
wie möglich vergessen werden. nichts sollte mehr als hindernis auf dem weg
zu Klaus dazwischenkommen. was vergangen war, musste zurückbleiben, um
eine glückliche zukunft zu begründen. die tagebücher liess ich bei den eltern,
unauffällig zwischen spielsachen und schulbüchern, heften und anderem kram
verteilt, verschleppt in grossen pappkartons, auf dem boden gestapelt bei den
dingen, die erstmal nicht mehr gebraucht werden, wenn man das elternhaus
verlässt.

*

die urlaubstage auf der insel fliegen dahin, obwohl es keine ereignisse gibt,
die uns in atem halten. es ist wirklich erholung pur, ohne verpflichtungen, ohne
jeglichen zeitplan, einfach so nach lust und laune und befindlichkeit. gestern
haben wir wieder eine inselrundfahrt gemacht. blauer himmel, offenes auto,
fahrtwind im landesinneren, seewind am strand, warmes wasser, eine kleine
brandung, eine runde braten in der sonne, ein spaziergang an der wasserlinie,
hand in hand oder umarmt, wie immer, wenn wir uns im urlaub allein glauben.
wir haben stätten des altertums besucht und stätten des todes, die vom zweiten
weltkrieg herrühren. es blieb kaum zeit, um an etwas anderes zu denken. nur
für ein paar winzige sekunden lang erschien Chris` bild vor meinem inneren
auge und lenkte mich ab, aus der gegenwart hinaus, ein halbes jahrhundert
zurück in die sonnendurchglühte heide, wohin wir uns einen nachmittagsausflug
genehmigt hatten.

als Klaus seine hand auf meine schulter legte, verschwamm die heide, und das
meer füllte meinen blick bis zum horizont, wo sich seine dunkelblaue farbe
gegen den helleren himmel scharf abgrenzte.
 

morgen geht es wieder nach hause. wie der garten wohl aussieht? und dann
plötzlich doch dieser gedanke: Chris allein auf dem flug in den süden?  irgend-
wann lasse ich diese frage zu, nachdem ich all die tage einen grossen bogen
um sie gemacht hatte. er trug doch einen ring an der rechten hand. geschieden,
verwitwet, getrennt, verlassen, davongelaufen? Chris? es ist mir nicht vorstellbar.
langsam wird mir klar, dass mein leben anfängt, sich mit erinnerungen anzurei-
chern, die ich längst vergessen glaubte. ein teil meiner gefühlswelt wird auf ein-
mal in beschlag gelegt von etwas, das ich wohl zu kontrollieren lernen muss...


Chris

Suse wird ihm immer fremder. – er durchstöbert alte fotoalben, dias auf der suche
nach bildern von Marilu. vergleich der jungen frau mit der alt gewordenen. schliess-
lich griff nach den tagebüchern und versinken in den geschehnissen von damals.

waren die zwei wochen abwesenheit zu lang? Suse hat mich nicht erkannt. sie
sass in ihrem sessel und schaute nach draussen in den kleinen park, wandte nicht
einmal den kopf, als ich eintrat, reagierte erst stark verzögert auf meinen gruss
und schaute mit leerem blick zu mir hin, ohne weitere reaktionen zu zeigen. wie
erstarrt. ich habe nur ihre hand ergriffen. sie liess es geschehen. als ich begann,
vom urlaub zu reden, sah sie durch mich hindurch, wandte sich dann wieder
dem fenster zu. als ich fragte, wie es ihr gehe, schaute sie zu mir zurück, blieb
mir aber eine antwort schuldig. jemand vom personal kam vorbei und sagte: „sie
hat sie wohl sehr vermisst. es scheint ihr nicht besonders gut zu gehen...“

mit schlechtem gewissen bin ich nach hause gefahren. trauer und hilflosigkeit
machten mich wütend. eine radtour war fällig, und ich stürzte mich in den verkehr,
erreichte nach ein paar minuten die schrebergärten und hielt dann auf den wald
zu. es wurde eine längere fahrt, aber hinterher fühlte ich mich wohler. ich hatte
zeit gehabt, über uns nachzudenken und war zu dem schluss gekommen, dass
es immer wieder solche gefühle geben würde. es würde damit zu leben sein...

*

auf der suche nach einem alten schmöker stiess ich auf die fotoalben, die seit
jahr und tag im bücherschrank – hinter einer tür – ihr dasein fristen. die neugier
überfiel mich. ich wollte noch mal sehen, wie es war, mit Marilu in der heide.
ein bild mit uns beiden war dabei, geschossen mit selbstauslöser. ich war damals
so frei und hatte einen arm auf ihre schultern gelegt. es wäre eine gelegenheit
gewesen, mich ebenfalls zu umarmen oder mir eine hand zu geben. aber sie
liess es sich einfach nur gefallen, ohne sich etwas anmerken zu lassen. ich tat
letztlich nichts anderes und gab den abgeklärten, der offenbar keinen grossen
wert auf weitere annäherung legte.

einige male versuche ich, Marilus gesicht von damals in ihrem heutigen wieder-
zufinden. aber der kurze augenblick im flughafen hat nicht ausgereicht, um in
meiner erinnerung genügend einzelheiten bereit zu halten. ich ertappe mich
dabei, wie ich mich auch heute noch vom anblick meiner studienfreundin gefan-
gen nehmen lasse und die gegenwärtige realität ausblende. es war halt sehr,
sehr attraktiv damals, mit einer so wunderschönen jungen frau zusammen zu sein.

*

erste begegnung mit Marilu im wintersemester 62/63, in einem der praktika.
damals sagten wir noch fräulein W. und herr R.. es hat jedoch nicht lange
gedauert, bis wir uns duzten, zunächst nur bei einer abendlichen fete in den
räumlichkeiten eines kommilitonen anlässlich einer bestandenen zwischenprü-
fung, aber am nächsten tag wieder zögerlich, bis es endlich klar war, dass die
siezerei ein ende haben musste.

nach meinen aufzeichnungen von damals musste ich nicht suchen. ich wusste,
wo sie sich verbargen und fing an zu lesen:

15. Januar 1963

...noch immer ist es eisekalt. nächtlicherweile fällt geheimnisvoll aus un-
sichtbaren wolken dünner schnee leise in die stadt. am morgen ist dann
alles am tage grau gefahrene wieder weiss, ohne ende.

ich freue mich jedes mal auf den kurs, obwohl ich den weiten weg scheue.
jedoch die hoffnung auf die nähe Marilus, auf einige worte mit ihr, machen
mir vieles leichter.  gestern haben wir zwei stunden im hörsaal nebeneinan-
der gesessen und uns prima unterhalten (zwischendurch natürlich nur)...

Marilu ist ziemlich gross, hat so dunkle haare wie ich und ebenso dunkle
augen, vielleicht doch etwas heller als meine, und ein hübsches gesicht.
sie benimmt sich völlig natürlich, ist freundlich und lacht gerne. es ist wirk-
lich schön, mit ihr zusammen zu sein.

heute abend, als der kurs zu ende war und wir unsere mäntel anzogen,
ging ich mit einem schon angeknabberten grossen apfel an ihr vorbei.
sie rief: „lass mich mal beissen!“, und ich fragte zurück: „an welcher seite?“
und ging auf sie zu. sie lachte nur und antwortete: „das ist egal“. ich reichte
ihr den apfel, und sie biss sich tatsächlich ein grosses stück heraus, mit
sichtlichem genuss. Ella, die dabeistand,  behauptete: “mit `nem guten
apfel kannste an der nicht vorbeigehen“. ich musste lachen
...


16. Januar 1963

...in der garderobe packte ich wieder einen apfel aus. sie schielte lüstern
danach. ich liess sie zweimal beissen, worauf sie sich sogar bereiterklärte,
mich sonntags vom bahnhof abzuholen, wenn ich noch mehr solcher äpfel
mitbrächte.

vielleicht nehme ich sie noch mal beim wort...

 

18. Januar 1963

jeder tag scheint neue, glückliche minuten mit Marilu zu bringen. alles andere
tritt mehr und mehr in den hintergrund. meine gedanken reichen von der
letzten begegnung mit ihr bis zu jeder zuküftigen... es macht mich unendlich
froh; denn ich merke mit jedem neuen zusammentreffen, dass nicht nur
ich „suche“, sondern ich spüre auch die aktive einstellung Marilus auf mich
(wie lange ich noch in solch hohen tönen werde schreiben können, weiss
ich nicht. es wäre schön, wenn zwischen uns etwas mehr entstünde als
nur gute bekanntschaft.)

Marilu ist erkältet. sie hat eine stimme wie eine vorstadtnutte. diese tage
trafen wir uns in der garderobe. sie wollte gerade ihren mantel anziehen,
als ich ihr noch eben behilflich sein konnte: „weil du erkältet bist, will ich dir
ausnahmsweise mal helfen,“ sagte ich. sie erwiderte etwas ähnliches wie:
“dann werde ich wohl das ganze jahr erkältet sein müssen“. seitdem helfe
ich ihr immer in den mantel... sie reicht ihn mir schon wortlos hin. nur ein
lächeln huscht durch ihr gesicht. heute drückte sie mir ihre tasche in den
arm und zog den mantel selbst an; denn wir hatten es ziemlich eilig, um in
den nächsten hörsaal zu kommen. Marilu liess ihre freundinnen, die noch
nicht fertig waren, einfach stehen und drängte sich mit mir hinaus, so als
wären wir schon ewig miteinander diese wege gegangen. ich fühlte mich
direkt gebauchpinselt... zu wissen, dass sich ein mädchen für mich inter-
essiert... ich bin das noch gar nicht gewohnt.

wenn ich die augen schliesse und anfange, darüber nachzudenken, wie es
damals abgelaufen ist – im tagebucheintrag kondensiert in wenigen zeilen –
dann frage ich mich, wie es sein konnte, dass wir nicht zusammengekommen
sind. die aufmerksamkeit, die sie mir geschenkt, die worte, die sie für mich
gefunden hat, die „angebote“, die sich darin verbargen... warum habe ich nicht
auf nur einen hinweis von ihr reagiert? was wäre denn passiert, wenn ich sie
tatsächlich aufgefordert hätte, mich sonntag abend am bahnhof abzuholen? sie
hätte lachend abgewunken, ich hätte schmollend eine flunsch gezogen, wir
hätten schliesslich beide gelacht, und wären weitergegangen... oder sie hätte
mich wirklich abgeholt...

und als sie sagte: „dann werde ich wohl das ganze jahr erkältet sein müssen,
“warum hätte ich nicht ergänzen sollen: „oder das ganze leben?“
es hätte nichts zerstört.

dass ich beim hinausdrängen aus dem hörsaal nicht mal eben den arm um
sie gelegt oder beim mantelanziehen meine hand auf ihrer schulter liegen
gelassen habe: aus heutiger sicht kein ereignis, bei dem eine frage zu stellen
wäre. aber damals... in der öffentlichkeit... und wenn sie abgewehrt hätte, wie
wäre ich damit umgegangen?

und dann stosse ich auf eine notiz vom 8. Februar 1963:

... begegnungen mit Marilu sind jedes mal schön. wir sehen uns jeden
tag mehrere male. dass ich morgens und abends einen apfel mitbringe,
ist schon selbstverständlich, und dass sie danach verlangt, wenn ich
ihn noch nicht in der hand bereithalte, amüsiert mich. – wenn wir uns
unterhalten, spielt oft der schalk mit (was sich liebt, das neckt sich),
aber so gross wird die liebe nicht sein; es ist vielleicht nur ein flirt unter
studenten.

ich gebe zu, dass ich mir diese sätze aus den fingern sauge; aber all
jene minuten, in denen ich glücklich bin unter ihren augen, lassen sich
nicht so beschreiben, wie sie wirklich sind. es gibt zu viele einzelheiten;
fast jedes wort, das zwischen uns fällt, hat neben der ihm angestammten
bedeutung noch eine, spezifisch für uns gültige, rational nicht oder kaum
erfassbare bedeutung.

und dann auf einmal dieser absatz:

es herrscht (alles von mir aus gesehen, natürlich) fast ein schwebezustand
zwischen uns; ein tasten, sondieren in alle richtungen, das eines tages
aufhören wird, so als sei nie etwas von bedeutung zwischen uns gewesen.
wir werden auseinandergehen, ohne grossartige empfindungen: tschüss,
mach`s gut; vielleicht begegnen wir uns noch mal, irgendwo, irgendwann.
warum sollte es mit Marilu anders sein...?

ich lasse den ordner auf den schreibtisch fallen. was für ein eiskalter gedanke,
mitten heraus aus dem gefühlsüberschwang. sicher, es gab noch andere mädels,
die mich in ihren bann gezogen haben. aber da war keines, mit dem ich so ver-
traut war wie mit Marilu. –

eine ahnung? oder nur ein kühler schachzug, um es meiner seele zu erleichtern,
wenn es wirklich einmal auseinandergeht?


21. Februar 1963

...Marilu, die pünktlich gewesen war, blieb die ganze zeit über da. warum,
weiss ich nicht. alle anderen aus unserer gruppe waren schon gegangen,
sofern sie ihre scheine bekommen hatten. Peter und ich sassen zusammen

und sprachen noch mal einiges durch, was abgeprüft werden konnte. Marilu
kam, setzte sich neben mich, hörte zu, fragte, erzählte, stützte ihren arm
auf mein knie. es waren mit die schönsten minuten des ganzen kurses, wie

alle minuten dieses semesters, in denen ich mit ihr zusammensein konnte.
seit dem letzten kolloquium sahen wir uns jeden morgen von neun uhr an
bis zum ende der vorlesungen; denn um neun gingen wir gewöhnlich in den
erfrischungsraum... das vierte semester war tatsächlich das schönste von
allen bisher.


es wird zeit für den nachmittäglichen besuch bei Suse. was muss ich für sie
einpacken, was für mich noch besorgen auf dem heimweg? langsam tauche ich
wieder auf aus der vergangenheit und konzentriere mich auf die täglichen pflichten
und stelle fest, dass immer wieder zeit vergeht, die ich den alten erinnerungen widme.

*

eines morgens nach frühstück und zeitungslektüre möchte ich wissen, wie es
Marilu geht. was denkt sie, was fühlt sie, wie ist es ihr mit der unerwarteten
begegnung ergangen? wahrscheinlich hat sie viel weniger zeit und gelegenheit,
über diese dinge nachzudenken, schliesslich ist sie ja mit ihrem mann zusammen,
der einen sehr lebendigen eindruck macht und sich bestimmt ihrer vollen zuwen-
dung sicher sein kann.

was kann ich erwarten, wenn ich sie anrufe? andererseits, wozu diese skrupel;
denn sie war es doch, die mir mehr oder weniger vorgeschlagen hat, mich mal
zu melden. einfach nur mal anrufen und hören, wie es ihr geht. vielleicht entwickelt
sich eine idee zu einem treffen mit einem gespräch über alte zeiten...

die standuhr zieht mich mit ihrem kräftigen halbstundenschlag heraus aus meinen
tagträumereien und schickt mich auf den weg zum staubsauger. es ist zeit, sich
um den haushalt zu kümmern.


Marilu

wohin soll das führen, wenn sie an ihn denkt? sie sind fast 50 jahre ihre eigenen
wege gegangen. was verbindet die beiden noch?

suche nach den bildern, die er ihr damals geschickt hatte, nachdem sie zusam-
men durch die heide gewandert waren. nichts gefunden. tage später erneuter

versuch. es wird ihr bewusst, dass sie sich für ihn interessiert.

die zeit verrinnt in riesenschritten, jedes jahr geht es anscheinend ein wenig
schneller. und doch, es gibt perioden, da scheint sie still zu stehen. immer wenn
ich zurückblicke, ist es als wenn ich sie für eine weile anhalten könnte. zeit zum
nachdenken, zum denken an dinge, die nicht aus-, nicht zu ende gedacht wurden.
Chris zum beispiel ist zu einem solchen denkziel geworden. immer wieder mal
mischt er sich ein in meine wahrnehmungen, in mein tun und lassen, sei es zu
hause, draussen, in Klaus´ gegenwart, in seiner abwesenheit, plötzlich ist da
wieder so ein gedanke, ein bild vor meinen augen. aber ich bleibe nicht unbedingt
an Chris hängen, nein, es tauchen bilder von zu hause auf, von bruder und
schwester, von mutters tod und vaters trauer und dem plötzlichen gefühl, ins leere
zu fallen, als uns allmählich bewusst wurde, dass sie nie wieder für uns da sein würde.

die freunde, die wir damals hatten, waren ein trost...


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061219