ars-et-saliva
david p. eiser
zeitraffer
tun und lassen - die tragödie des menschen
wir tun nicht, was wir wissen.
aber wir wissen, was wir tun,
und wollen nicht wissen, was wir zu tun haben.
wir sind über 7 milliarden individuen in abermillionen von dörfern, städten, län-(der begriff "zeit" ist eine erfindung des menschen, um seine existenz in seiner wahrneh-
dern und kontinenten mit über 7 milliarden verschiedenen persönlichen
lebenszielen.
tun wachen und schlafen, schuften und geniessen, essen und trinken, lachen
und weinen, streben und lassen laufen, zeugen und töten, hegen und
schauen weg, lernen und staunen, planen und ignorieren, bitten, lügen…
und herrschen, weil wir uns für die krone der schöpfung halten und uns
mächtig glauben, um über leben und tod entscheiden zu können.
nicht ist nur der eine von zwei polen. und weil das geschehen im universum als
dynamisch ausgeglichen zu betrachten ist, fungiert am anderen ende des
pols das "doch" als gegengewichtige kompensation. das "nicht" gibt daher
nur eine zeitweilige richtung vor, die bei nächster gelegenheit vom "doch"
überholt wird und umgekehrt. darin erkennt man die dynamik des lebens-
vorgangs, stets auf der suche nach anpassung an augenblickliche gege-
benheiten.
mungswelt verstehen zu können. jenseits des menschen gibt es keine "zeit". insofern
sind begriffe wie "zeitweilig, jetzt" und "augenblicklich" nur aussagen in relation zur
menschlichen wahrnehmung, und deshalb geht es bei dieser betrachtung weder um se-
kunden noch um jahrhunderte.)
was einerseits gibt es naturwissenschaftlich definierbare dinge und prozesse,
anderer seits emotionen, also menschliche lebensäusserungen. während
man sich auf dem boden von mathematik, physik und chemie weltweit
problemlos auf einer ebene verständigen kann, bleibt die vielfalt von
emotionen und wahrnehmungen auf das individuum beschränkt. der
mensch beurteilt, schätzt ein, denkt nach, denkt vor, wägt ab, kalkuliert
wahrscheinlichkeiten, "hört" auf sein bauchgefühl, schleppt seine gesam-
te persönliche erfahrungswelt mit sich herum und kommt letztendlich zu
einer sehr persönlichen entscheidung. da in rund 200 ländern dieses
planeten sekündlich über 7 milliarden persönliche entscheidungen fallen,
ist die chance, eine mehrheit für etwas weltbewegendes zu finden, aus-
gesprochen klein, vor allem, wenn es sich um dinge handelt, die aus der
sicht des individuums noch weit in der zukunft zu liegen scheinen.
wir alle zusammen sind weder bereit noch in der lage, gemeinsam in eine
richtung zu laufen. jeder läuft dort, wo er sich zu hause wähnt, und je
weiter sich eine gesellschaft entwickelt hat, desto wirrer werden die we-
ge, die jeder einzelne zurückzulegen scheint. es gibt keinen menschli-
chen schwarm, der gross genug wäre, um die masse mensch weltweit
in eine richtung zu drängen, und zwar nur auf der basis – wenn auch
hinreissend vorgetragener – naturwissenschaftlicher erkenntnisse.
deren folgen sind zwar für manche bereits am horizont erkennbar, das
individuum fühlt sich aber emotional noch nicht so stark tangiert, dass
angst sein denken bestimmt und seine künftigen schritte lenkt.
wissen bedeutet, von der existenz einer sache oder eines prozesses und der
ihnen innewohnenden logik überzeugt zu sein, und zwar, weil man es
verstanden hat.
könnte es sein, dass heute zu viele menschen zu viel wissen, um sich die ge-
meinsame akzeptanz eines überschaubaren kernes von überlebenswichtigen
erkenntnissen erarbeiten zu können?
sind wir nicht mehr in der lage, langfrist-prioritäten zu setzen?
unser wissen ist nicht nur weit verbreitet, in individuen und organisationen, sondern
auch für jedermann 24 stunden am tag weltweit zugänglich, und fast zum nulltarif. aber
beherrscht wird die welt von politikern und wirtschaftsbossen, die in machtblöcken
denken und nicht nach naturwissenschaftlichen erkenntnissen handeln.
so bilden sich komplexe strukturen (militärisch-industriell, pharmazeutisch-, finanz-,
energie-, wirtschaftspolitisch…), die irgendwann der einfachheit halber als „too big
to fail" deklariert werden. wie fatal; ist es denn nicht eher so, dass „they fail because
they are too big“? -
leider bringt vorausschauendes handeln in unserem land der permanenten wahlen
politisch keinen gewinn, ad-hoc-handeln verheisst dagegen grössere chancen auf
beachtung und wiederwahl.
zudem ist der weg zum handeln kein schritt für schritt linear abarbeitbares vorgehen
sondern ein von dynamik durchsetzter abschnitt, in dessen verlauf hemmende und
erregende impulse im wechselspiel die richtung vorgeben, pendelnd zwischen wissen
und emotion. in den meisten fällen dürfte die emotion dominieren, denn der mensch
strebt primär nach unlustvermeidung und lustgewinn und muss sich erst bezwingen,
um rational zu handeln. deshalb sind in den think tanks an den schaltstellen der
macht z.b. bio, nachhaltigkeit, ressourcenschonung und down shifting keine begriffe,
die konsequentes nachfolgehandeln ermöglichen sollen sondern klippen, die es tun-
lichst zu umschiffen gilt, um die ertragserwartungen nicht zu mindern.
was würde denn passieren, wenn wir immer täten, was wir wissen?
unsere welt wäre kalt und langweilig, farblos und hoffnungslos; denn nur die bunte
vielfalt wirkt als entwicklungsreiz.
ist es müßig, darüber nachzudenken, ob wir "umkehren" müssen?
ja, es ist müßig; denn wir streben von anfang an vorwärts.
die entwicklungsgeschichte der lebewesen zeigt, dass mit der geburt ein unaufhör-
licher anpassungsprozess angestoßen wurde, ablesbar an lebensäusserungen und
verhaltensweisen.
die benötigte energie liefern die bedürfnisse: sicherheit, fortpflanzung, hunger, durst
usw..
des weiteren entwickeln sich aus der angst vor dem verlust des bisher erreichten
abwehrstrategien zum erhalt und zur vermehrung persönlicher zufriedenheit. die hier
erforderliche energie zur durchsetzung ist ebenfalls angstbasiert und entstammt dem
zentralen bedürfnisdreieck "macht – besitz – genuss".
auf der basis dieser erkenntnis und bei der betrachtung der menschheitsentwicklung
bleibt nur ein schluss zu ziehen: bei den menschen, die das weltgeschehen dominieren,
wird es so weitergehen wie bisher, nämlich vorwärts in richtung mehr, besser, schöner.
es mag eine bedeutende schweigende minderheit oder auch mehrheit geben, die aus
welchen gründen auch immer keine weitreichenden zukunftsvisionen entwirft und auf-
grund von informationsdefiziten globale zusammenhänge nicht begreift. ihre unfähigkeit,
traditionen und lethargie des alltags zu überwinden, bietet ihr angesichts des stürmi-
schen voranschreitens des politisch und wirtschaftlich beherrschenden teils der weltbe-
völkerung und deren expansiver bedürfnisse keine chance auf aktive gegensteuerung.
"umkehr" ist weder erforderlich noch möglich, weil die richtung, das "vorwärts", gene-
tisch in uns vorgegeben ist. was wir modifizieren müssen – und werden – ist die metho-
de des vorwärtsschreitens.
wenn die fossilen ressourcen erschöpft sein oder ihre ausbeutung so teuer werden,
dass niemand mehr das geld dafür aufzubringen in der lage bzw. bereit ist, werden
wir unseren auch in zukunft ständig steigenden energiebedarf durch andere quellen
decken. im extremfall wird dies so weit gehen, dass wir alles, was zur zeit noch aus
fossilen grundstoffen gewonnen wird, mit hilfe der neuen energiequellen synthetisie-
ren werden. damit kann die menschheit noch sehr viele jahre auf der erde leben.
gleichzeitig wird der drang in den weltraum zur beschaffung lebensnotwendiger
grundstoffe und zur erweiterung des lebensraums dazu führen, dass sich die situa-
tion auf der erde entspannt, sofern uns nicht vorher die herrschaft intelligenter ma-
schinen zu willens- und phantasiearmen lebewesen macht, die algorithmisch geführt
werden. ob wir dann noch die kraft aufbringen, uns gegen diese art von gewaltherr-
schaft aufzulehnen, wird erst die zukunft klären.
(dies ist leider keine vision, sondern wir sind bereits auf dem weg dorthin: wegbe-
reiter wie "big data", "intelligent technologies" und "internet der dinge" bestimmen
heute schon die entscheidungen global denkender und handelnder.)
es ist nicht davon auszugehen, dass es sich bei dieser entwicklung um einen line-
aren prozess handelt, an dessen ende die realisierung einer utopie steht. es wird
so ablaufen wie bisher, z.b. wie die industrialisierung der erde: politische umwäl-
zungen, geldmarktzusammenbrüche, kriege, flüchtlingsströme und zigmillionen un-
natürlicher todesfälle haben für mächtige amplitudenschwankungen gesorgt.
ähnlich gravierende ereignisse werden auch in zukunft das leben beeinträchtigen,
den gang der dinge - das vorwärtsstreben - letztlich aber nicht aufhalten, solange
der mensch existiert.
zu viele länder haben jahrzehntelang rücksichtslos und unabhängig voneinander
an zu vielen bedeutsamen stellschrauben gedreht, sodass wir jetzt von lebensbe-
drohlichen entwicklungen auf unserem planeten sprechen müssen (z.b. die begin-
nende flutung von bewohnten inseln in den meeren).
wir nehmen diese signale wahr, beschäftigen uns aber mit anderen dingen, weil
wir eben nicht eine große weltgemeinschaft sind sondern ein konglomerat von
persönlichen und staatlichen und organisationsindividualisten, denen die eigen-
liebe näher liegt als andere eigenschaften und die nach dem unsterblichen motto
handeln "unlust vermeiden und lust gewinnen".
und das nicht morgen sondern heute. jetzt gleich.
solange der mensch ein mensch ist; denn primär an etwas anderes als an sich
selbst zu denken, wäre zumindest psychologisch auffällig.
deshalb wollen wir nicht wissen, was wir zu tun haben.
(dieser essay wurde im frühjahr 2016 in dem autorenband "wir tun nicht, was
wir wissen" veröffentlicht. herausgeber Christoph Rinneberg und Dietrich Weller)
mehr zu diesem thema z. b. in:
Richard J.Barnet: Der amerikanische Rüstungswahn oder die Ökonomie des Todes
dieses buch stammt aus 1970 und beschreibt die entwicklung der USA hin zu einem
staat, der sich zum ziel gesetzt hat, die sicherheit seines territoriums und seiner bürger
weltweit durch militärische mittel zu gewährleisten anstatt sich um die ursachen innerer
unruhe und konflikte zu kümmern und in sozial relevante projekte zu investieren.
dieses buch hätte auch heute erscheinen können, allerdings wären die aufgeführten
kosten jetzt keine milliarden mehr sondern billionen.
Yvonne Hofstetter: Sie wissen alles
„…es drohen Überwachung und Kontrolle, eine Welt ohne Geheimnisse und Privatheit,
die schrankenlose Herrschaft von Internetgiganten und Technologiekonzernen...“
(klappentextauszug)
John Gray: Politik der Apokalypse
neokonservatismus und neoliberalismus als wegbereiter für die gesellschaftliche und
politische entwicklung der Vereinigten Staaten nach der jahrtausendwende.
Gillian Tett: Fool´s gold
Tett beschreibt die ursachen des finanzdebakels 2008/2009, vor dem - von purer gier
gesteuert - jeglicher versuch der zähmung, der kontrolle, des hinterfragens und der
selbstbeschränkung nicht nur abgewehrt sondern regelrecht bekämpft wurde.
James Risen: Pay any price. Greed, power and endless war
Risen ´s diagnose beschreibt die gier der herrschenden. sie entwertet alles, was an
zivilisatorischem und kulturellem fortschritt jemals erreicht wurde. niemand aus der
riege der mächtigen möchte auf den profit verzichten, den die permanente kriegfüh-
rung einem komplex von individuen, firmen und institutionen in den Vereinigten
Staaten beschert.
Peter C. Goetzsche: Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität
Goetzsche stellt in erschreckender deutlichkeit die auswirkungen der fähigkeiten und
unfähigkeiten des global agierenden pharmazeutisch-politischen komplexes dar. der
titel des buches ist leider keine übertreibung.
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