ars-et-saliva
david p. eiser
zeitraffer
begegnung im zwielicht
die unebenheiten der strasse schüttelten den laster ordentlich durch, sodass der beachtliche
lärm, den maschine und getriebe verursachten, noch übertönt wurde vom wringen und ächzen
der karosserie und dem gelegentlichen springen der ladung auf der pritsche. hin und wieder
versuchte der fahrer, den schlaglöchern und steinen auszuweichen, so dass er letztendlich in
schlangenlinien fuhr und dadurch den anschein erweckte, als wäre er nicht ganz nüchtern.
von weit oben her betrachtet kroch das fahrzeug schneckengleich über die baumlose ebene
und zog eine fahne hellbraunen staubs hinter sich her, die der wind langsam nach süden
verschob. im scheitelpunkt des spitzen winkels aus staubfahne und piste blitzte manchmal
die sonne auf, wenn sie vom aussenspiegel reflektiert wurde; denn sie stand schon tief im
westen, leuchtete orange und tauchte die landschaft bis hin zu den bergen in warme farben.
darüber wölbte sich der wolkenlose, dunstige, stahlblaue abendhimmel.
mit beiden händen umklammerte der fahrer das lenkrad, um nicht die gewalt
über das fahrzeug zu verlieren. angestrengt schaute er nach vorne, über die
lange kühlerhaube hinweg. trotz des fahrtwindes, der unter der geöffneten
frontscheibe hindurchzog, perlte der schweiss auf seinem gesicht und zer-
rann zwischen den stoppeln seines bartes. seine schwarzen haare klebten
am kopf und liessen ihn aussehen, als käme er gerade aus dem wasser.
er hatte den aussenspiegel hochgestellt, um nicht von der sonne, die jetzt
in gerader linie hinter ihm stand, geblendet zu werden. hin und wieder fuhr
er sich mit dem linken handrücken über das gesicht, um den schweiss abzu-
wischen. zunächst kaum merklich war ein dunkler strich in der ferne aufge-
taucht, quer zur strasse verlaufend, unterhalb der berge. er wurde mit der
zeit deutlicher und schliesslich als schienenweg erkennbar, der auf einem
niedrigen damm durch geröll und felsen führte. - beim näherkommen sah
man, dass der bahnübergang geschlossen war. die schranke hatte rost an-
gesetzt, der von der vormals weissen und roten farbe kaum noch etwas
übrig gelassen hatte. sie war verbeult und hing ein stückchen neben der
gabel als hätte sie jemand angehoben und zur seite geschoben, um sie
zu umgehen.
jenseits des übergangs, neben der anderen schranke, stand ein kleines
gebäude, errichtet aus dem gelbgrauen gestein dieses landes. grob-
schlächtig behauene balkenenden ragten über die oberen mauerkanten
hinweg, zerfasert, trocken und dunkel wie die schatten der felsblöcke im
abendlicht. zwei kleine glaslose fenster wiesen zu den schienen, eine
türöffnung zur strasse.
der fahrer nahm das gas zurück, kuppelte aus und liess den wagen die
letzten meter langsam ausrollen. rüttelnd und schüttelnd brachte er ihn
in einiger entfernung vor den schienen zum stehen, ohne die bremsen
benutzt zu haben. die maschine stiess und ruckelte im leerlauf weiter.
er verharrte eine weile regungslos, starrte auf die geschlossene schranke
und warf dann einen prüfenden blick von der höhe der fahrerbank auf die
nähere umgebung. schliesslich griff er sich eine zigarre aus einem hohl-
raum unter dem armaturenbrett, musterte sie kritisch, blies den staub ab,
biss die spitze ab, spie sie aus dem fenster, kramte in dem korb auf der
bank neben sich nach einem streichholz, zündete die zigarre an und warf
das hölzchen nach draussen.
aus den fenstern des lasters waberten dicke blaue qualmwolken, die der
wind so vorsichtig zur seite wehte, dass sie noch in beachtlicher entfer-
nung erkennbar blieben. der fahrer hatte inzwischen die tür auf seiner
seite geöffnet und liess ein bein heraushängen. die rechte hand hatte
er hinter seinen kopf gelegt und diesen gegen die rückwand der kabine
gelehnt. so sass er eine geraume weile und rauchte still vor sich hin, die
augenlider zu schmalen schlitzen verengt.
schliesslich verliess er die kabine, kletterte rückwärts hinaus, setzte einen
fuss auf den blank gewetzten eisenbügel und sprang dann auf die piste.
die sonne war inzwischen so weit gesunken, dass die länge seines schat-
tens seine körpergrösse weit übertraf. - langsam näherte er sich dem
bahnübergang. das leiser werdende, holperige motorengeräusch seines
lasters und seine schritte auf der strasse waren die einzigen geräusche
in der stille dieses abends, in der ebene unter den bergen, und sie hatten
etwas zähflüssiges an sich, wie wenn jemand versuchte, sie aufzuhalten.
er stützte seine arme auf die schranke, rauchte und schaute den rostbrau-
nen schienen nach, erst nach süden, dann nach norden, drehte sich um,
lehnte sich rückwärts an den schrankenbaum und blickte eine weile in die
tief stehende sonne. schliesslich wand er sich zwischen schranke und
gabel hindurch und überquerte das gleis. auf der anderen seite gab es
genügend platz zwischen der winde und dem schrankenlager, um hin-
durch zu gelangen. im vorbeigehen versuchte er, die kurbel zu drehen.
es gelang ihm mühelos, aber ohne jeden weiteren effekt ausser einem
unangenehmen quietschen.
in der türöffnung verharrte er ein paar sekunden, um sich zu orientieren.
das gebäude bestand aus einem einzigen raum. im halbdunkel des inne-
ren war es etwas kühler als draussen. er liess sich auf einem holzschemel
nieder und sass nun zwischen den sonnenstrahlen. sie formten zwei
scharf abgegrenzte staubkorridore, die von den beiden fensteröffnungen
bis zur gegenüber liegenden wand zogen und den raum gleichsam in
drei teile teilten. im hinteren teil befand sich eine steinerne kochstelle.
durch das kleine loch im dach darüber war wohl der rauch abgezogen,
hatte jedoch so viel russ auf seinem weg hinterlassen, dass die wand
völlig schwarz war. zwischen den fensteröffnungen lehnte sich ein tisch
an die wand, wie es schien aus kistenbrettern zusammengehauen und
als solcher nur deswegen erkennbar, weil eine unregelmässig begrenzte
hölzerne fläche von vier aufrecht, aber nicht unbedingt senkrecht stehen-
den kanthölzern getragen wurde.
der fahrer stützte seine ellenbogen auf die kniee und legte sein gesicht
in die hände. die zigarre hing aus seinem mund, er starrte auf den rissi-
gen lehmfussboden, bis ihm der tabakrauch die augen reizte und ihm
die sicht nahm, so dass er den blick hob, um das regalbrett gegenüber
zu mustern und das lager darunter, fast zu ebener erde, und auch diese
beiden einrichtungsgegenstände aus roh bearbeitetem holz, das ur-
sprünglich anderen zwecken gedient haben musste. eine sekunde lang
fixierte er das buch auf dem regal. er verspürte den schwachen impuls,
aufzustehen, um diesem anflug von neugier nachzugeben, bewegte
sich dann aber doch nicht sondern rauchte weiter.
dann war die sonne hinter dem horizont versunken und hatte die staub-
strahlen in sich zusammenfallen lassen. die dreiteilung des raumes war
verschmolzen zu einer undurchdringlichen einheit von dämmerung und
stille, eingebettet in den trockenen geruch von durchwärmtem stein,
lehm und holz. nur mit einem kühlenden luftzug drang hin und wieder
das unregelmässige motorengeräusch des lasters mühsam und sehr
leise und wie aus weiter ferne durch die tür und die fensteröffnungen in
diesen raum hinein und nagelte die zeit an die wand, an die decke, auf
den fussboden und in das bewusstsein des fahrers.
es mag zwei oder drei jahre her gewesen sein, dass er zuletzt diese
route befahren hatte. damals waren sie zu dritt hier angekommen, die
fahrzeuge voll beladen mit waffen. sie kannten einander nicht. man
hatte sie im hafen angeheuert und ihnen den auftrag gegeben, sich
unverzüglich auf den weg zu machen, jeder eine andere route. fünf
tage und nächte waren sie unterwegs gewesen, ohne zu wissen, wohin
der transport gehen sollte, und hatten immer nur das nächste etappen-
ziel genannt bekommen.
abends, am ende der kurzen dämmerung war irgendjemand aufgetaucht,
ein motorradfahrer aus einer seitenstrasse, ein bauer auf seinem fuhr-
werk, ein mann, der wie zufällig am strassenrand stand... es schien alles
bis ins detail geplant gewesen zu sein. erst am letzten abend waren sie
zusammengetroffen und dann im konvoi durch die hochebene gefahren.
als sie im morgengrauen hier ankamen, waren die schranken geschlossen.
ein endloser güterzug stand auf den schienen; der letzte waggon verdeckte
das haus, und hinter der schranke stand eine junge frau in tarnfarbenen
shorts und zerschlissenem khakihemd, die segeltuchtaschen am gürtel
gefüllt mit magazinen, die maschinenpistole im anschlag. "steigt alle lang-
sam aus! einer nach dem anderen!" schrie sie herüber, "und keine tricks!"
und sie stiegen aus, reckten sich und stellten sich ein paar schritte neben
ihren lastern auf. "legt die hände hinter den kopf und kommt hier rüber!"
sie gehorchten mechanisch und marschierten im gänsemarsch auf sie zu.
sie wich ein paar schritte zur seite, nicht ohne sie aus den aufmerksamen
augen zu lassen und forderte sie schliesslich auf, in das haus zu gehen.
im dunkeln - die fensteröffnungen waren verhängt - wurden sie gepackt
und in windeseile wortlos gefilzt. als man mit dem ergebnis zufrieden
schien, liess man sie zurück. einer der stummen filzer baute sich in der
türöffnung auf und richtete seine maschinenpistole in das innere des
hauses. schliesslich hörte man einige rufe, die von jenseits der schienen
kamen. der wächter entspannte sich sichtlich, drehte sich um und ging
nach draussen, wobei er ihnen zurief, ebenfalls raus zu kommen. die
frau lehnte an der schranke, hatte die maschinenpistole zwar noch in
der hand, aber mit dem lauf nach unten gerichtet, und lachte zufrieden,
als sie die drei fahrer noch etwas verstört und unbeholfen aus der türöff-
nung treten sah. "eure ladung wandert in die letzten beiden waggons,"
sagte sie, "los, packt mit an!" - sie brauchten den grössten teil des mor-
gens dazu, obwohl alle kräftig mithalfen; und je höher die sonne stieg,
desto langsamer ging es voran.
immer wieder mal in den letzten jahren hatte er an diese frau gedacht,
und jetzt hatte ihn der zufall erneut an diesen ort geführt, und er spürte
das verlangen, hier etwas zu finden, etwas, das die verblassende erin-
nerung vielleicht auffrischen könnte, vielleicht irgendeinen hinweis, der
ihm weiterhelfen würde auf der suche nach etwas unbestimmtem, ge-
heimnisvollem, sehr attraktivem und begehrenswertem.
in einer pause hatten sie sich in den dumpfen schatten des hauses be-
geben und schweigend gegessen und geraucht. einer der fremden
hatte ein kleines, trockenes feuer entfacht und kaffee gekocht. der be-
cher ging reihum. als sie ihm den becher reichte, berührten sich ganz
kurz ihre hände im dämmerlicht dieser erbärmlichen hütte, und für
einen winzigen augenblick spürte er plötzlich die nähe eines menschen,
zu dem es ihn hinzog, auf einmal war da etwas wie sehnsucht, verlan-
gen nach geborgenheit und ruhe, gleichzeitig aber auch die angst, die
kontrolle zu verlieren und sich auszuliefern. am liebsten wäre er aufge-
sprungen, hätte sie an den händen gegriffen und wäre mit ihr nach
draussen gerannt, zu seinem laster und hätte sie mitgenommen, für
den rest seines lebens. gleichzeitig aber gehorchte er der vernunft,
die ihm riet, hier und jetzt nichts anderes zu tun als das, was alle an-
deren auch taten. als er über den becherrand zu ihr hinüberschaute,
glaubte er ein lächeln auf ihrem gesicht zu erkennen.
als der erste laster entladen war, trat einer der fremden auf dessen
fahrer zu, sprach ein paar worte mit ihm, schlug ihm auf die schulter
und wartete, bis er sein fahrzeug gewendet und sich ein gehöriges stück
entfernt hatte. dann schufteten sie weiter. als der zweite laster leer war,
wurde auch dieser fortgeschickt.
zum schluss erhielt auch er den anerkennenden schlag auf die schulter,
und der ausgestreckte arm deutete ihm an, sich zu seinem fahrzeug zu
begeben und zurückzufahren. die anderen waren schon in die waggons
gesprungen und hingen in den offenen türen oder sassen auf den rauen
holzböden. noch stand die sonne ein wenig hinter dem zug, so dass die
türen im schatten lagen, aber bald, auf der endlosen fahrt nach süden,
würde sie sich auf diese seite vorarbeiten, und dann würden alle auf die
andere seite der wagen ziehen und sich dort den fahrtwind durch die
haare wehen lassen.
auf dem weg zu seinem laster drehte er sich noch einmal um, noch ein-
mal, um sie zu sehen, wie sie in der offenen tür lehnte, die langen
schwarzen haare in den nacken geworfen, in der einen hand ein stück
brot, in der anderen die maschinenpistole, die sie erhob, als der fremde
an ihrer seite hochkletterte. und dann schoss sie zweimal. es kam ihm
vor wie ein doppelter kanonenschlag. er schrak zusammen und erstarrte,
anstatt sich hinzuwerfen und deckung zu suchen. und dann drang ein
geräusch an seine ohren, das er so noch nie gehört hatte. es kroch wie
ein unsichtbares wasser durch die felstrümmer auf ihn zu, es umwand
wie ein krake jeden gegenstand, reflektierte sich an den güterwagen
und an seinem laster gleichermassen, und dazwischen stand er, einge-
hüllt in ein gewaltiges, weiter und weiter anschwellendes brüllen und
röhren, das die mittägliche totenstille dieses ortes gnadenlos zerstörte.
in diesen augenblicken setzte sich der zug in bewegung. die frau
drehte sich um, warf ihre maschinenpistole ins innere des waggons
und schaute dann wieder zurück. mit der freien hand winkte sie ihm zu.
dieses bild hing noch immer wie eine riesige fotografie an einer der
vielen wände seines gedächtnisses. bevor er es sich auf seiner fahrer-
bank bequem machte, klemmte er noch eine decke in die tür, um die
kühle nachtluft fernzuhalten. er hatte sich nach einiger überlegung
entschlossen, den motor laufen zu lassen; denn er war sich nicht si-
cher, ob er ihn am morgen ohne grosse mühe wieder anwerfen konnte.
ausserdem war er daran gewöhnt, bei laufender maschine zu schlafen.
er erwachte in der kühle des morgens, als es anfing zu dämmern, setzte
sich auf und legte sich die decke um die schultern, suchte sich eine
seiner zigarren und rauchte genüsslich vor sich hin. aus dem zwielicht
heraus konturierte sich das bahnwärterhäuschen, gewannen die
schranken form und das ganze an farbe, und bevor die sonne über
die berge trat, verliess er sein fahrzeug und begab sich zu den schie-
nen, wendete seinen schritt nach süden und stapfte von schwelle zu
schwelle, bis er ungefähr den punkt erreicht hatte, von wo aus die frau
ihm aus dem waggon zugewinkt haben musste.
hier blieb er stehen und wandte den blick zurück zu seinem wagen
und versuchte sich vorzustellen, was damals in ihr abgelaufen sein
mochte. sie hätte ihm ja nicht zu winken brauchen; schliesslich hatte
sie den beiden anderen fahrern auch nicht zugewinkt, als diese davon-
fuhren. aber ihm. und sie hatte gelächelt. sie hatte gelächelt. und die-
ses lächeln lag jetzt wie ein zäher schleim über seinem innersten, um-
hüllte den ärger über sein zögerliches verhalten damals gleichermas-
sen wie dieses wohlige gefühl der sehnsucht und die erinnerung an
die vollkommenheit von ein paar winzigen augenblicken in seinem
leben. er war glücklich und unglücklich zugleich.
auf dem rückweg zu seinem laster betrat er das haus und griff nach
dem schmalen buch auf dem regal. im licht des hauseingangs blieb
er stehen und blätterte es durch. es war eine broschüre der eisenbahn-
gesellschaft, und nach einer kleinen weile der unschlüssigkeit legte
er sie wieder zurück.
an der schranke zögerte er und richtete dann seinen schritt erneut
südwärts. aufmerksam suchte er den boden neben den schienen ab,
der von geröll und kleinen felsbrocken übersät war. wieder und wieder
kreiste er vor der stelle, wo sie zweimal geschossen hatte. schliesslich
bückte er sich und hob eine patronenhülse auf, auf dem graubraunen
untergrund kaum zu erkennen und schon ein wenig korrodiert. er rieb
sie zwischen den fingern, um das messing zum glänzen zu bringen,
hatte aber keinen sichtbaren erfolg damit. dann steckte er sie in seine
hemdtasche und machte sich endgültig auf den rückweg.
mit gewalt liessen sich die schrankenholme zur seite biegen, so dass
er mit seinem laster ungehindert durchfahren konnte. für einen augen-
blick überlegte er, sie wieder zurückzubiegen, aber er wollte nicht mehr
aussteigen, es hatte alles eh schon viel zu lange gedauert. er klappte
die sonnenblende herunter, fühlte noch einmal nach der patronenhülse
in seiner tasche und konzentrierte sich auf die piste.
die sonne schien jetzt schräg von vorn auf den kühler, und obwohl der
lack längst seinen glanz verloren hatte, waren die lichtreflexe so stark,
dass er die augenlider eng zusammenkneifen musste.
im rückspiegel verschwanden das bahnwärterhaus und die schranken
und die gleise im anschwellenden licht der morgensonne. eine halbe
stunde später war all dies hinter dem horizont versunken; nur die berge
vor ihm waren ein stück näher gekommen.
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